Corporate Governance Inside

Disruption & Weltenwandel


Unternehmerische Zukunftskunst - strategisches Management in Zeiten des Wandels

Der Blick zurück der Enkelinnen und Enkel, die gar nicht verstehen konnten, warum es mal anders war.

Wie muss die Unternehmensstrategie auf disruptiven Wandel reagieren? Woran orientiert man langfristiges unternehmerisches Handeln, wenn sowohl die technologischen als auch die gesellschaftlichen Wertegrundlagen sich in ungeahnter Geschwindigkeit verändern? Das sind Fragestellungen, die aktuell im Zentrum vieler Diskussionen zwischen Aufsichtsräten und Unternehmensvorständen stehen.

Die Antworten darauf fallen in kaum noch einer Branche leicht: ob in der Energie- oder Automobilindustrie genauso wie in der Ernährungs- bis zur Finanzbranche. Auflösen lassen sich diese Herausforderungen nur mit einer klaren „Enkel“- und Wertorientierung.


Wie gehen Unternehmen damit um, wenn das Extrapolieren und inkrementelle Anpassen bisheriger Strategiemuster an ihre Grenzen gerät? Wie kann das gelingen, was der MIT-Forscher Carl Otto Scharmer „Presencing“ nennt, d.h. ein strategisches Denken konsequent von der Zukunft her und nicht durch die modifizierte Verlängerung bisheriger Handlungsmuster?


Die Antworten darauf fallen den Verantwortlichen schwer. Bestehende Pfadabhängigkeiten zu brechen, ist für viele Unternehmen eine gewaltige Herausforderung. Das liegt nicht nur an langfristig getätigten Investitionen und Technologieentscheidungen, sondern auch an „mentalen Infrastrukturen“, d.h. der tiefen Verankerung von Selbstverständnissen in der Branchen- und Unternehmenskultur. Zudem ließen sich eigentlich notwendige Strategieanpassungen lange über eine erfolgreiche politische Lobby-Arbeit abfedern, die Branchen zumindest kurzfristig schützt.


Die Energiebranche hat das in existenzbedrohender Weise in der Nach-Fukushima-Phase erlebt. Hatte man doch erst kurz vor dem März 2011 den Atomausstiegskonsens nochmals aufbrechen und verlängern können, bevor dann im Sommer die Verkündung des noch sehr viel umfassenderen Ausstiegs die Branche erfasste und betriebswirtschaftlich existenziell bedrohte. Ähnliches lässt sich aktuell in der deutschen Automobilbranche beobachten. Hier sind globale Entwicklung und die Regulation in Schlüsselmärkten wie in China der Treiber für Veränderungen, kaum die deutsche Politik. All das erschwert eine konsequent betriebene strategische Umsteuerung.


In vielen Branchen besteht weiterhin die Überzeugung, dass der unter heutigen Bedingungen prognostizierte Business-Case als alleiniger Kompass für strategische Entscheidungen dienen kann. Gesellschaftliche Umbrüche gilt es dann, begleitend in Form eines Risikomanagements abzufangen.


Die Agrarchemie steht mit vielen Produkten und der Diskussion über den Einsatz von Bio- und Gentechnologie vor dieser Herausforderung. Dabei ist längst nicht mehr die Risikoseite das Problem großer Teile der Branche. Es ist der nicht mehr vermittelbare gesellschaftliche Nutzen, der den Unternehmen die gesellschaftlichen Akzeptanzprobleme bereitet. Das macht auch den Protest der Gegner so intensiv. Die Kritik an einzelnen Produkten oder der Gentechnologie ist da nur ein Katalysator für eine sehr viel größere, dahinter liegende Legitimationsherausforderung für die eigene Geschäftstätigkeit. Ähnlich geht es der Automobilindustrie. Hier ist das SUV zum Konflikt-Symbol in der Auseinandersetzung mit „Glyphosat der Automobilbranche“ geworden. Eigentlich geht es aber um die Kritik an einer Industrie, die mit ihren Unternehmensstrategien keine wirklichen Antworten auf die Zukunftsherausforderungen des 21. Jahrhunderts zu haben scheint. bieten hat. Und die heißen Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und die Zukunft lebenswerter Städte. Alle diese Themen sind eng mit der Mobilität der Zukunft verknüpft. Das eigene Auto ist darauf kaum noch eine angemessene Antwort.


Wie kommt man zu einer Strategieentwicklung, die die Rolle des eigenen Unternehmens konsequent von der Zukunft her denkt?

Eine Antwort darauf findet sich beim Blick auf das Wesen „moralischer Revolutionen“ in der Menschheitsgeschichte.


Der Historiker Kwame Anthony Appiah hat solche moralischen Revolutionen der letzten 300 Jahre analysiert – von der Abschaffung der Sklaverei bis zur Einführung des Frauenwahlrechts vor rund 100 Jahren. Dabei hat er ein immer wieder gleiches Phasenschema festgestellt. In diesem gibt es eine „Phase 3“, in der die Notwendigkeit eines moralischen Umsteuerns in der Gesellschaft längst angekommen ist, aber vielfältige Argumente existieren, warum eine Umsetzung dennoch nicht möglich ist. Solche Argumente gab es in aller Vielfalt in der Endphase der Sklavenwirtschaft genauso wie kurz vor der Einführung des Frauenwahlrechts.


Im Klima- und Nachhaltigkeitsthema befinden wir uns wieder in einer solchen Phase 3: Kaum jemand in Politik und Wirtschaft streitet ab, dass „man“ hier handeln muss. Aber es gibt viele Argumente, warum das eben nicht oder nur sehr verlangsamt im eigenen Land oder der eigenen Branche umzusetzen sei.


Irgendwann tritt dann eine „Phase 4“ in moralischen Revolutionen auf. Appiahs Buch heißt daher orientiert an dieser Phase „Eine Frage der Ehre“. Das sind die Momente, in denen trotz aller Bedenken und Gegenargumente klar wird: Es geht so nicht weiter, es muss jetzt einfach gehandelt werden. In Deutschland haben wir einen solchen Moment mit Blick auf die Atomenergie nach der Katastrophe von Fukushima erlebt. Die „Fridays for Future“-Bewegung fordert genau einen solchen Moment in der Klimafrage ein: Sie ist nicht mehr bereit, all die Argumente zu akzeptieren, die erklären, warum es aktuell nicht geht. Sie machen deutlich, dass es ein umfassendes Handeln jetzt braucht. Und es wird interessant zu sehen sein, ob das am Ende einen ähnlichen Impuls auslöst wie damals die Fukushima-Krise. Die politischen Verschiebungen bei der letzten Europawahl haben einen Eindruck der aktuellen Dynamik gegeben.


Interessant ist „Phase 5“. Diese ist sozusagen der Blick zurück der Enkelinnen und Enkel, die gar nicht verstehen konnten, warum es mal anders war: „Oma, sag mal, warum durfte deine Mutter eigentlich nicht wählen?“ „War es früher wirklich so, dass in jedem Restaurant einfach geraucht werden durfte?“ Es fällt dann schwer zu erklären, warum sich der alte Zustand so lange halten konnte. Mit Autos – die gerade mal eine halbe Stunde am Tag genutzt werden – zugeparkte Straßenzüge werden wir unseren Enkeln vermutlich nur noch schwer erklären können. Ähnliches gilt für die Frage, warum man glaubte, im Jahr 2019 einen CO2-Preis von nur 10 Euro durchsetzen zu können.

Bildquelle: Olaf Rayermann Fotodesign

Strategisches Denken konsequent von der Zukunft her.

Was heißt das nun für die Strategiefindung von Unternehmen?

Ein Blick aus der Zukunft bedeutet, konsequent den Enkel*innen-Blick einzunehmen. Wie wird wohl aus der Zukunft auf das Heute zurückgeblickt werden? Wer das zum Maßstab seines strategischen Handelns macht, der benötigt Mut, erhält darüber aber normative und gesellschaftliche Richtungssicherheit.


Eine solche Perspektive erfordert es, die bestehenden Silos zu verlassen und sich einer Perspektive des „Futur 2“ (Harald Welzer) zu öffnen. Hunderttausende Schülerinnen und Schüler der „Fridays for Future“-Bewegung stehen heute als Gesprächspartner bereit. Sie versammeln oft gerade die besonders engagierten Jugendlichen in ihren Reihen.


Mit ihnen lohnt sich der Austausch. Sie werden in 20 Jahren Führungskräfte auch in Ihrem Unternehmen sein und dankbar dafür, dass schon heute einige Weichen richtig gestellt wurden. Suchen Sie das Gespräch!




Prof. Dr. Uwe Schneidewind
Professor für Innovationsmanagement und Nachhaltigkeit

Teilen Sie diesen Artikel:

Prof. Dr. Uwe Schneidewind ist Professor für Innovationsmanagement und Nachhaltigkeit und leitet seit 2010 das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie, einen der international führenden Nachhaltigkeits-Think-Tanks. Er ist u.a. Mitglied des Club of Rome.

In seinem 2018 erschienenen Buch „Die große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels" (Fischer Verlag) analysiert er u.a., wie Unternehmen in Phasen des massiven gesellschaftlichen Umbruchs gefordert sind.

Bildquelle: www.eventfotograf.in / ©JRF e.V.