Corporate Governance Inside
Resilient Leadership
Krisenmanagement „at its best“
Stresstests sind allgemein aus der Finanzindustrie bekannt. Sie legen verschiedene gesamtwirtschaftliche Szenarien zugrunde und sollen zeigen, inwiefern Institute in der Lage sind, mit diesen umzugehen. Die Belastungen, mit denen Volkswirtschaften und Unternehmen aller Branchen weltweit durch die COVID-19-Pandemie konfrontiert sind, gehen hierüber jedoch weit hinaus. Neben den staatlichen kam und kommt dem betrieblichen Krisenmanagement in dieser Zeit eine herausragende Bedeutung zu.
In einer 2018 von Deloitte durchgeführten Studie (Deloitte Insights, Crisis management for the resilient enterprise, 2018) gaben 84 Prozent der befragten Unternehmen an, dass bei ihnen Krisenmanagementstrukturen und -pläne vorhanden sind. Die vergangenen Monate haben jedoch deutlich gezeigt, dass die implementierten Strukturen und die entwickelten Pläne für ein Krisenszenario im aktuellen Ausmaß meist nicht ausgelegt waren. Dort, wo im Rahmen der bestehenden Pläne Präventions- und Reaktionsmaßnahmen abgerufen wurden, haben diese, neben den Auswirkungen der Pandemie selbst, mit dem Präventionsparadoxon zu kämpfen.
Ob die gewählten Maßnahmen also angesichts eines ausbleibenden noch ernsteren Krisenverlaufs übertrieben waren oder eben diesen verhindert haben, ist somit Gegenstand aktueller und zukünftiger Diskussionen. Aus Sicht des Risikomanagements ist es erforderlich, die getroffenen Entscheidungen und umgesetzten Maßnahmen sowie die Governance im Krisenmanagement auf Lessons Learned und Verbesserungspotenziale hin zu überprüfen. Die Wirksamkeit des Risikomanagementsystems ist ein Schwerpunkt der Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats. Daher ist es wichtig, dass Aufsichtsräte sich nun zeitnah über die Auswirkungen der Pandemie und die ggfs. geplanten Veränderungen berichten lassen und das Thema auf ihre Agenda nehmen.

Die aktuelle Methodik zu Krisenvorbereitung, akutem Krisenmanagement und - nachbereitung folgt dem vierstufigen Krisenmanagement-Lifecycle. Dieser besteht aus den Phasen Risks, Issues, Crisis und New Normal.
Im Zentrum der Phase New Normal stehen die während der Krise gewonnenen Erkenntnisse und Lessons learned.
In der ersten Phase (Risks) geht es um die Identifikation und Bewertung elementarer sowie spezifischer Risiken für die betreffende Organisation. Die Entwicklung von Krisenszenarien und der Impact auf das Unternehmen bilden die Basis für alle weiterführenden Maßnahmen des Krisenmanagements. Dabei ist zu beachten, dass die Betrachtungen nicht nur das Unternehmen selbst, sondern auch die gesamte(n) Wertschöpfungskette(n) einschließen. Erste Maßnahmen des Business-Continuity-Managements wie die Schaffung eines Bewusstseins für Krisen und deren Auswirkungen fallen ebenfalls in diese Phase. In die Phase Issues fallen konkrete Maßnahmen zur Krisenvorbeugung und - vorbereitung. Das Ziel ist es, die Auswirkungen möglicher Krisen sowohl aktiv als auch passiv zu minimieren. Dazu zählen die Schaffung einer szenarienübergreifenden Krisenorganisation ebenso wie die Definition von Monitoring-, Alarmierungs- und Entscheidungsprozessen. Hierauf aufbauend werden Krisenpläne für die zuvor identifizierten Szenarien entwickelt. Diese umfassen Anpassungs- und Kontinuitätsmaßnahmen für alle krisenrelevanten Bereiche wie bspw. Personal, Produktion, Wertschöpfungsketten, IT. Für alle Szenarien und möglichen Verläufe werden Kommunikationskonzepte erstellt, um im Ernstfall eine verzögerungsfreie Ansprache von eigenen Mitarbeitern, Lieferanten und Kunden zu ermöglichen. Während der letzten Monate lag der Fokus auf der Crisis-Phase. Wo immer möglich wurde entlang der zuvor definierten Prozesse und Strukturen über die Umsetzung bereits ausgeplanter Maßnahmen entschieden. Dennoch stellten die Dynamik der COVID-19-Situation und die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der weiteren Ausbreitung des Erregers das Krisenmanagement beinahe täglich vor neue Herausforderungen. Die tatsächliche Situation wich dabei häufig stark von den zuvor identifizierten Szenarien ab. Es mussten zahlreiche, teilweise weitreichende Entscheidungen in kürzester Zeit getroffen werden – ohne eine sichere Informationsbasis. Die schnelle Verfügbarkeit der erforderlichen Informationen und deren Verlässlichkeit waren und sind von entscheidender Bedeutung. Insbesondere ein zentrales Lagezentrum und die vorherige Ausplanung eines Krisenstabs haben sich als Kernfaktoren für den erfolgreichen Umgang mit der COVID-19-Situation erwiesen. Der Ablauf der Phase sollte dabei in drei Stufen verstanden werden:
- Respond: Im Fokus steht zunächst der Schutz der eigenen Mitarbeiter, der Kunden und der Lieferfähigkeit. Die Sicherung der Liquidität und kurzfristige Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der operativen Tätigkeiten stellen flankierend die Fortführung des Geschäfts sicher. Definierte Entscheidungskompetenzen und das schnelle Umsetzen getroffener Entscheidungen sind wesentliche Erfolgsfaktoren in der ersten Phase der akuten Krisenbewältigung. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Dokumentation der getroffenen Entscheidungen und der als Grundlage genutzten verfügbaren Informationen, um einer späteren Angemessenheitsprüfung wirkungsvoll begegnen zu können.
- Recover: Planung und Vorbereitung eines schnellen Wiederanlaufs – in der aktuellen COVID-19-Situation maßgeblich durch staatliche Maßnahmen bestimmt – sind der wesentliche Kern der Stufe Recover. Hier können vorhandene Geschäftsfortführungs- und Wiederanlaufpläne aus dem Business-Continuity-Management genutzt werden, um Abhängigkeiten und etwaige Voraussetzungen schnell zu identifizieren. Dabei geht es insbesondere um die Abwägung zwischen dem Abbau und der (angepassten) Fortführung von Krisenmaßnahmen für den Fall einer erneuten Lageeskalation oder einer eventuellen zweiten Welle in Bezug auf die aktuelle Pandemie.
- Thrive: Erste Erkenntnisse und langfristige Anpassungsmaßnahmen sollten bereits während der Krise gesammelt und in die Wege geleitet werden. Dies hat bereits kurzfristig positive Auswirkungen auf die zukünftige Resilienz und setzt erste Impulse für die letzte Phase des Krisenmanagement-Lifecycle.
Im Zentrum der Phase New Normal stehen die während der Krise gewonnenen Erkenntnisse und Lessons learned. Welche Anpassungen sollten dauerhaft für den gewöhnlichen Geschäftsbetrieb übernommen oder neu eingeführt werden? Dies ist der erste konkrete Schritt für die Steigerung der Resilienz. Die gemachten Erfahrungen wirken sich aber auch auf die bisherigen Erkenntnisse zu möglichen Risiken, plausiblen Szenarien und deren Folgen aus. Auf Basis der während der Krise angelegten Dokumentation wird somit wieder in die erste Phase übergeleitet, in der die den bisherigen Planungen zugrunde liegenden Informationen aktualisiert und neu bewertet werden. Diese Methodik des Krisenmanagements hat sich über sämtliche Phasen hinweg bewährt und zu einem strukturierten Vorgehen – auch während der aktuellen Krise – beigetragen. Aus Anlass der jüngsten Erfahrungen in der praktischen Anwendung sollen jedoch zwei Punkte besonders hervorgehoben werden. Der erste betrifft das bereits angesprochene zentrale Lagezentrum. Gerade während der akuten Krise hat sich gezeigt, dass der Fluss von Informationen innerhalb von Organisationen nicht immer so reibungslos verläuft wie eventuell gedacht. Insbesondere die zeitnahe Verfügbarkeit der bestehenden Informationen hat sich als Herausforderung herausgestellt. Häufig waren die für Entscheidungen benötigten Informationen an verschiedenen innerhalb einer Organisation verteilten Stellen vorhanden, aber nicht zentral verfügbar. Hier hat sich die Implementierung eines zentralen Lagezentrums als entscheidender Vorteil im Umgang mit der aktuellen Krise erwiesen. Der zweite Punkt betrifft das einleitend erwähnte Präventionsparadoxon. Während der Nutzen von Vorsorgemaßnahmen innerhalb einzelner Organisationen teilweise zur Diskussion stehen mag, haben sich branchenübergreifend gerade solche Unternehmen als deutlich resilienter erwiesen, die bereits umfassende Krisenpläne entwickelt und adäquate Krisenstrukturen implementiert hatten.
Viele Baustellen sind noch offen
Während sich die grundlegende Herangehensweise des Krisenmanagements als zielführend erwiesen hat, haben sich im Praxistest doch Themen gezeigt, die weiterer Anpassung und Verbesserung bedürfen. Diese betreffen allgemeine organisatorische Bereiche ebenso wie die Planung und Vorbereitung konkreter Maßnahmen zur Krisenbewältigung.
Beispielhaft wird auf vier wesentliche Themen näher eingegangen.
Führung und Struktur: Der Vorteil vorhandener bzw. vordefinierter Krisenstrukturen wurde bereits angesprochen. Die jüngsten Erfahrungen haben jedoch auch gezeigt, dass die Einhaltung dieser Strukturen aktiv gestaltet und eingefordert werden muss. Das Ziel ist hierbei, Entscheidungsprozesse an die höheren zeitlichen Anforderungen in einer Krise anzupassen. Einige Organisationen neigen jedoch dazu, lieber entlang bereits gewohnter, jedoch langsamer Prozesse zu entscheiden und damit nicht immer die aktuelle Lageentwicklung abzubilden. Krisenübungen können dazu beitragen, die Akzeptanz der betreffenden Strukturen zu steigern, dass diese im Ernstfall ihre Vorteile besser entfalten können.
Kontinuierliche Lagebeurteilung und agiles Management von reaktiven sowie proaktiven Maßnahmen: Auf die Bedeutung der Verfügbarkeit aktueller Informationen für notwendige Entscheidungen wurde bereits hingewiesen. Gerade in der akuten Krisenbewältigung (Response) ist jedoch zu beobachten, dass langfristige Planungen vernachlässigt werden. Die aktuelle Krise hat gezeigt, dass diese nötig sind, um vom reinen Reagieren wieder zum Agieren innerhalb eines New Normal überzuleiten. Frühzeitige Identifikation und Ausplanung möglicher strategischer Szenarien können dazu beitragen, auch innerhalb einer Krise den Planungshorizont zu erweitern und die Resilienz bezüglich weiterer Lageentwicklungen zu steigern.
Organisierte Kommunikation: Die durch Planung und Vorbereitung erreichte Steigerung der Resilienz erreicht nur dann ihre volle Wirkung, wenn sie an alle relevanten Stakeholder kommuniziert wird. Rechtzeitige Identifikation und szenarioabhängige Priorisierung der Stakeholder – inklusive vorgefertigter Nachrichten und passender Kanäle für die Ansprache – tragen gerade in der Außenwirkung, jedoch auch in Bezug auf die eigenen Mitarbeiter zu einem Erhalt bzw. sogar einer Festigung des Vertrauens in das Unternehmen bei.
Adäquate Dokumentation: Die nachvollziehbare Dokumentation des Krisenmanagements – insbesondere der getroffenen Entscheidungen – ist vor dem Hintergrund der aufkommenden Diskussion um die Angemessenheit von Maßnahmen entscheidend. Viele der in großer Unsicherheit getroffenen Entscheidungen haben mittel- bis langfristige Auswirkungen und beeinflussen die Zielerreichung der Unternehmen über die kommenden Monate hinweg. Die nachvollziehbare Dokumentation der Entscheidungen und der zum jeweiligen Zeitpunkt vorliegenden Fakten ist deshalb ein wesentlicher Baustein des Krisenmanagements. Zudem können diese Informationen auch als Basis für die Vorbereitung auf eine zweite Pandemiewelle genutzt werden, um wirksame Entscheidungen noch schneller zu treffen und die erforderlichen Maßnahmen umzusetzen.
Auf eine Krisensituation im Ausmaß der aktuellen Pandemie waren nur wenige Unternehmen vorbereitet.
Fazit
Auf eine Krisensituation im Ausmaß der aktuellen Pandemie waren nur wenige Unternehmen vorbereitet. Bei allen damit verbundenen Schwierigkeiten sollte jedoch gerade jetzt die mit den aktuell gemachten Erfahrungen verbundene Chance nicht außer Acht gelassen werden.
Der Ausbruch von COVID-19 hat deutlich gemacht, welche Herangehensweisen sich auch im Ernstfall bewähren und zum erfolgreichen Umgang mit einer Krise beitragen können. Ebenso hat die Pandemie offengelegt, an welchen Stellen Handlungsbedarf besteht. In der Folge kommt es darauf an, dass Unternehmen die richtigen Lehren ziehen, um für zukünftige Krisen besser gewappnet zu sein. Hier müssen Aufsichtsräte qua Überwachungsauftrag einwirken und sich entsprechend in die Diskussion einbringen.
Michael Müller Partner Risk Advisory, Deloitte Deutschland
Teilen Sie diesen Artikel: