Corporate Governance Inside
Sustainable Business Leadership
Aufsichtsratsthema Nachhaltigkeit: eine Frage der unternehmerischen Handlungs- und Wettbewerbsfähigkeit
Klimawandel, Verlust der biologischen Sorten- und Artenvielfalt, Extremwettersituationen, Wassermangel und Naturkatastrophen zeigen uns zunehmend planetare Grenzen auf. Hungersnöte, Flüchtlingsströme, Plastikabfälle, soziale Spannungen und prekäre Beschäftigung entlang der globalen Lieferketten kommen hinzu. Gemeinsam stellen diese Entwicklungen die Grundlagen unseres bisherigen Lebens und Wirtschaftens infrage. Viele Bereiche sind betroffen, von Nahrungsmittelketten über die Mobilität, die Kommunikation, das Wohnen, die Freizeit bis hin zum Konsum. Für Unternehmen geht es im Kern um das Erkennen und Vermeiden von Geschäftsrisiken sowie um die Gestaltung nachhaltiger Geschäftsmodelle und -strategien. Im Rahmen der Kontroll- und Beratungsfunktion des Aufsichtsrats sollten diese Herausforderungen mit betrachtet werden. Dabei geht es nicht nur um die rechtzeitige Befassung mit den regulatorischen Anforderungen, sondern vielmehr auch um eine nachhaltig erfolgreiche und damit zukunftsfähige Aufstellung des Geschäftsmodells insgesamt. Hier sollte sich der Aufsichtsrat intensiv einbringen.
"Nachhaltige Entwicklung ist eine Entwicklung, die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen."
Mit diesem Leitprinzip definierte bereits 1987 die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen einen heute immer noch geltenden Anspruch an die Art und Weise, wie wir Menschen unsere Welt gestalten bzw. „entwickeln“.
Die geschäftliche Bedeutung von Nachhaltigkeits-/ESG-Risiken
Für die Bedeutung einzelner ESG-Themen (Environment: Umwelt, Social, Soziales; Governance: Unternehmensführung) für ein Unternehmen gibt es zwei wesentliche Einflussfaktoren: die Relevanz des Themas für ganzheitliche Nachhaltigkeit und die kommerzielle Wirkung des Themas auf das Unternehmen. Für Aufsichtsgremien ist es dementsprechend wichtig, relevante Themen angemessen zu erfassen, zu priorisieren und hinsichtlich ihrer kurz- bis langfristigen Einflüsse auf die Geschäftssituation zu bewerten.
Abb . 1 – Von der Priorisierung wichtiger ESG-Themen zur Definition der strategischen Ambition

Dies ist die Voraussetzung, um die Nachhaltigkeit von Geschäftsmodell und -strategie zu beurteilen, entsprechende Risiken zu kontrollieren und die Opportunitäten zu nutzen. Dabei gilt es, Ressourceneinsatz, Marktpositionierung und Nachhaltigkeitsambition in eine tragfähige Balance zu bringen. Entsprechend kann die Geschäftsstrategie nur die für den Erhalt der Geschäftsfähigkeit notwendigsten Nachhaltigkeitsmaßnahmen verfolgen (License to operate/Nachhaltigkeit als Notwendigkeit), sie kann proaktiv mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen und ökologischen Belastungsgrenzen umgehen (License to grow/Nachhaltigkeit als Wachstumstreiber) oder gar das Thema Nachhaltigkeit zur Kernaufgabe des eigenen Geschäftsmodells machen (License to lead/Industrieführerschaft im Thema Nachhaltigkeit).
Nachhaltigkeit als Notwendigkeit (License to operate)
Dass für die Realisierung einer nachhaltigen Entwicklung auch Unternehmen eine Rolle spielen, ist seit der Verabschiedung der Sustainable Development Goals (SDGs) durch die UN 2016 kaum noch umstritten. Die 17 Ziele beschreiben Maßnahmen zur Sicherung von Menschenrechten, Frieden, Ernährungssicherheit, Wasser- und Energieversorgung, Bildungschancen, Biodiversität. Die zugehörigen 169 Zielvorgaben betonen die Wichtigkeit der Mitwirkung von Unternehmen und haben damit eine weitreichende Diskussion über die unternehmerische Verantwortung angestoßen.
Ebenfalls 2016 trat das Pariser Klimaabkommen in Kraft, in dem sich 180 Staaten darauf einigten, die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf „deutlich unter“ zwei Grad Celsius zu begrenzen, insbesondere durch eine Minderung der Treibhausgasemissionen. Auch die Wirtschaft soll mit Klimazielen in Einklang gebracht werden.
Die SDGs und das Pariser Abkommen bilden den internationalen Hintergrund für eine Vielzahl weiterer regulatorischer Initiativen auf nationaler und europäischer Ebene, beispielsweise den EU-Aktionsplan für die Finanzierung einer nachhaltigen Wirtschaft (EU-Taxonomie und NFDR (Non-Financial Disclosure Regulation)) im Rahmen des Green Deals. Dieser zielt darauf ab, mehr Geld – auch privates – in Richtung einer klima- und umweltfreundlichen Wirtschaft zu kanalisieren.
In Deutschland läuft seit zwei Jahren der Nationale Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte (NAP). Er zielt darauf ab, Unternehmen auf freiwilliger Basis zur Sorgfalt im Umgang mit Menschenrechtsfragen in der Lieferkette zu motivieren. Nachdem das begleitende Monitoring aber nur bei einer kleinen Minderheit befragter Unternehmen ernst zu nehmende Bemühungen feststellen konnte, ist nun ein Gesetz in Diskussion, gemäß dem Unternehmen und Unternehmer für Menschenrechts- und Umweltverstöße haftbar würden, die bei Erfüllung der Sorgfaltspflichten vorhersehbar und vermeidbar gewesen wären. In anderen Ländern ist dies bereits umgesetzt, auf EU-Ebene ist es für 2021 vorgesehen.
Dies sind nur Beispiele einer ganzen Welle von Regulierungen, die auf eine nachhaltige Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft abzielen und stetig zunehmende Anforderungen an die soziale und ökologische Integrität von Unternehmen stellen. Wenn Organisationen diesen Anforderungen nicht gerecht werden, besteht die Gefahr, dass ihnen über kurz oder lang die operative Lizenz (License to operate) entzogen wird.
Unternehmen müssen sich immer häufiger fragen, ob ihre Wachstumgspläne mit Nachhaltigkeit vereinbar sind.
Nachhaltigkeit als Wachstumstreiber (License to grow)
Regulierungen und Risiken sind aber nicht die einzigen Gründe, warum Nachhaltigkeit integraler Bestandteil der strategischen und operativen Unternehmensführung sein sollte. Nachhaltig sinnvolle Maßnahmen gehen oft auch mit ökonomischem Nutzen einher. Wer weniger Plastik einsetzt, ist Ölpreisschwankungen weniger ausgesetzt; wer divers rekrutiert und Arbeitnehmer gut behandelt, schafft eine kreativere und stabilere Belegschaft; wer Produkte und Dienstleistungen anbietet, welche Nachhaltigkeitsprobleme lösen und nicht verursachen, kann mit überdurchschnittlichem Umsatzwachstum rechnen.
Unternehmen müssen sich immer häufiger fragen, ob ihre Wachstumspläne mit Nachhaltigkeit vereinbar sind. Wenn wir weiterhin eine wachsende Weltbevölkerung versorgen wollen, müssen wir Wachstum sowie Ressourceneinsatz entkoppeln und gleichzeitig Verteilungsgerechtigkeit aufrechterhalten. Mit vielen bisher verwendeten Produkten, Verpackungen, Produktionsmethoden und Technologien ist dies jedoch nicht ohne Weiteres umsetzbar. Es werden Alternativen benötigt, die mit gesellschaftlichen und ökologischen Belastungsgrenzen vereinbar sind. Der Markt für diese Alternativen ist enorm. Gemäß einem Report der britischen Business & Sustainable Development Commission stellt die Umsetzung der SDGs Marktpotenziale im Wert von über 12 Billionen USD bis 2030 dar.
Deutlich wird dies auch im Konsumgütermarkt: Nachhaltigkeit ist längst aus der Nische in den Mainstream gewandert. Immer mehr Bevölkerungsgruppen interessieren sich für sozialverträglich hergestellte und umweltverträgliche Produkte. Unzählige Start-ups mit engagierten jungen Entrepreneuren setzen Nachhaltigkeit auf ihre Agenda – von veganer Nahrung bis zum Recycling. Wer diesen Trend am Markt verschläft, sieht neben der nachhaltigen Konkurrenz schnell ziemlich alt aus.
Diese Entwicklung zeigt sich auch am Kapitalmarkt. Bei privaten und institutionellen Investoren sind ökologisch oder sozial fragwürdige Aktien zunehmend verpönt. Unternehmen, die gemäß dominanter Sustainability-Ratings Vorreiter sind, weisen inzwischen rund 30 Prozent höhere Kurs-Gewinn-Verhältnisse auf als die Nachzügler aus der gleichen Branche. Deutlich wird dies aktuell in der Chemieindustrie: Unternehmen, die im Bereich Wasserstoff, einer potenziellen nachhaltigen Energiequelle, aktiv sind, lösen enorme Zukunftsfantasien aus, die sich zunehmend auch in ihren Aktienkursen widerspiegeln.
Nachhaltige Industrieführerschaft (License to lead)
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wandelt sich das Verständnis dessen, was in Gesellschaft und Wirtschaft unter einem „führenden Unternehmen“ verstanden wird. Es geht nicht mehr nur um das Liefern eines optimal hohen Ertrags für die Anteilseigner, sondern zunehmend darum, das Geschäft in Einklang mit der breiten Palette gesellschaftlicher Interessen und Ziele zu entwickeln – also weniger um Shareholder- als um Stakeholder-Return. Wer es schafft, praktikable Lösungen für Nachhaltigkeitsherausforderungen in wirtschaftlich tragfähige und somit skalierbare Lösungen zu gießen, erschließt nicht nur neue Wachstumspotenziale. In den entsprechenden Foren – sei es nun im World Economic Forum, in der Technical Expert Group for Sustainable Finance der Europäischen Kommission oder im Rat für nachhaltige Entwicklung der deutschen Bundesregierung – finden solche Unternehmen Gehör. Sie können an der Neugestaltung der Regeln für eine nachhaltige Wirtschaft mitwirken.
Der unternehmerische Lohn der Nachhaltigkeit
Zusammenfassend lässt sich sagen: Wo Nachhaltigkeit zunehmend reguliert wird, ist Compliance unabdingbar. Nur wer Vorschriften einhält, kann seine operative Lizenz behalten. Doch Sustainability fordert Unternehmen weit über diesen Rahmen hinaus. Wer die Transformation des eigenen Geschäfts in Richtung Nachhaltigkeit in Angriff nimmt, kann Risiken reduzieren, Kosten sparen und sich langfristig die gesellschaftliche Lizenz für Wachstum sichern. Eine dritte „Lizenz“ winkt Unternehmen, die sich als Pioniere der Nachhaltigkeit positionieren: die zum Mitgestalten.
Das Verständnis dessen, was in der Gesellschaft und Wirtschaft unter einem "führenden Unternehmen" verstanden wird, wandelt sich.
Abb . 1 – Von der "License to operate" zur "License to lead"

Doch was benötigt ein Unternehmen, um sich auf diesen Weg zu begeben? Und wie kann der Aufsichtsrat dabei helfen?
1. Führung: Nachhaltigkeit muss in der Führungsebene verankert werden
Die nachhaltige Transformation gelingt nur, wenn sie auch von ganz oben gewollt, gestaltet und gesteuert wird. Unternehmenslenker und Kontrollgremien sollten sich zunächst fragen: Welches sind die für das Unternehmen wichtigsten Nachhaltigkeitsthemen und wie stehen wir in Bezug auf sie da?
2. Strategie und Innovation: Nachhaltigkeit muss für das Unternehmen konkretisiert und Teil des Geschäftsmodells werden
Die wesentlichen sozialen und ökologischen Wirkungen und Abhängigkeiten eines Unternehmens und seiner Produkte und Dienstleistungen müssen identifiziert sowie in ihrer Bedeutung für das Geschäft verstanden sein. Danach gilt es, dies in den Strategiebildungsprozess einfließen zu lassen. Und diese Ausrichtung findet sich dann auch in den Forschungs- und Entwicklungsbemühungen wieder – wo relevante und spezifische Nachhaltigkeitsziele stets mitzudenken sind. Der Aufsichtsrat kann strategische Entscheidungen und Investitionsvorhaben entsprechend hinterfragen und darauf achten, dass bei allem Fokus auf geschäftliche Interessen wichtige Nachhaltigkeitsdimensionen ausreichende Beachtung finden.
3. Kooperation – über die Unternehmensgrenzen hinaus
Viele der anspruchsvollen Nachhaltigkeitsherausforderungen können Unternehmen nicht alleine lösen. Beispielsweise die Rückführung und erneute Nutzung von Materialien in einem Kreislauf: Dies bedarf meist der Zusammenarbeit mit Lieferanten und Abnehmern, oft auch mit anderen Industrien. Gleiches gilt für die Förderung von Menschenrechten und die Reduktion von Emissionen in der Lieferkette. Viele Lösungen basieren auf gemeinsamen Innovationen. Der Aufsichtsrat kann der Geschäftsführung helfen, über den eigenen Tellerrand zu schauen und im Netzwerk schlummernde Synergien zu heben.
4. Funktionale Integration: Nachhaltigkeit ist eine Querschnittaufgabe
Viele Unternehmen fangen mit einem dezidierten Nachhaltigkeitsteam an. Nachdem wesentliche Nachhaltigkeitsziele definiert sind, zeigt sich dann aber schnell, dass es für ihre Verfolgung der Integration von Nachhaltigkeit in das tägliche Tun der verschiedenen Funktionen bedarf, sei es im Einkauf, der Produktentwicklung, im Marketing oder in der Logistik. Das verlangt Änderungen in Kompetenzen und Prozessen, aber auch in individuellen und funktionsspezifischen Zielen. Der Aufsichtsrat kann diese Entwicklung einfordern und hinterfragen.
5. Steuerung: Nachhaltigkeit muss systematisch gemessen und erfasst werden
Um den Transformationsprozess gestalten zu können, muss die ökologische und soziale Leistung des Unternehmens gemessen werden. Hier gilt es, geeignete KPIs zu definieren. Dafür, und für die entsprechende Datensammlung, existiert inzwischen eine große Bandbreite von Indikatorsystemen, Standards und digitalen Lösungen. Der Aufsichtsrat sollte sicherstellen, dass ihm quantitative Informationen vorgelegt werden, welche eine Betrachtung der Nachhaltigkeit der Wertschöpfungskette des Unternehmens unterstützen.
6. Kultur: Nachhaltigkeit als sinnstiftende Bereicherung der Arbeit
Köpfe, Prozesse und KPIs reichen nicht. Die Transformation zur Nachhaltigkeit muss auch in den Herzen der Mitarbeiter stattfinden. Wenn Nachhaltigkeit nicht Teil des Wertesystems im Unternehmen wird, dann bleibt jeglicher Fortschritt fragil, Innovationen werden nur halbherzig verfolgt und die prozessuale Umsetzung ist oft schwach. Sollte es jedoch gelingen, dann wird Nachhaltigkeit zur Quelle von Motivation, Stolz und Innovationkraft. Die wichtigste Determinante für diese Kultur ist wiederum die Führungsebene: Durch klare Kommunikation eines nachhaltigen Purpose, entsprechende unternehmerische Entscheidungen und Incentive-Systeme setzt die Führung die Grundlage für die unternehmerische Transformation in Richtung Nachhaltigkeit. An diesem Standard sollte der Aufsichtsrat auch den Vorstand messen – und sich selbst.
Nachhaltigkeit muss systematisch gemessen und erfasst werden.
Dr. Wolfgang Falter Partner, Sustainability Services, Deloitte Deutschland
Thomas Krick Director, Sustainability Services, Deloitte Deutschland
Teilen Sie diesen Artikel: