Corporate Governance Inside
Die große Disruption
Kontrolle des Unkontrollierbaren
Gastbeitrag von Frank B. Jehle, CFO, Benteler International AG
Corona-Pandemie, Halbleitermangel, Inflation, Ukraine-Krieg, Rohstoffmangel, stockende Lieferketten – Unternehmen müssen in immer kürzeren Abständen auf Marktverwerfungen reagieren. Wie können Aufsichtsräte unter diesen Umständen Risiken identifizieren, kontrollieren und minimieren?
Dem ehemaligen US-Außenminister Henry Kissinger wird folgendes Bonmot zugeschrieben: „There can not be a crisis next week. My schedule is already full.“ Als Vorstand eines internationalen Automobilzulieferers gehen meine Gedanken beim Blick in den Kalender aktuell des Öfteren in eine ähnliche Richtung: „Wann dreht sich ein Termin eigentlich nicht im weitesten Sinne um Krisenmanagement?“
Die Welt ist so VUCA wie noch nie
Spätestens in der Finanzkrise 2008/2009 hat so gut wie jedes Unternehmen erfahren, wie stark externe, kaum kontrollierbare Faktoren bis dato erprobte „Operating Models“ strapazieren können. In den vergangenen Jahren haben Häufigkeit und Unberechenbarkeit dieser Faktoren – insbesondere in der produzierenden Industrie – rasant zugenommen: Corona-Pandemie, Rohstoff- und Halbleitermangel, Inflation, die Folgen des Krieges in der Ukraine, Unsicherheiten in den globalen Lieferketten etc. „VUCA“ (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) ist das bekannteste Akronym, um die „neue Normalität“, in der sich Unternehmen zurechtfinden müssen, zu beschreiben.
Abb. 1 – Preisanstieg Peak vs. Jahresanfang 2022 in Prozent, Russland und Ukraine als Hauptexporteure zahlreicher Rohstoffe

Quellen: https://www.boerse.de/historische-kurse/Nickelpreis/XC0005705543 (abgerufen am 13.05.2022), https://www.finanzen.net/rohstoffe/kohlepreis (abgerufen am 13.05.2022), https://www.finanzen.net/rohstoffe/palladiumpreis (abgerufen am 13.05.2022), https://www.nasdaq.com/de/market-activity/commodities/ng:nmx (abgerufen am 13.05.2022).
In einer – zumindest bislang – immer stärker miteinander verwobenen Wirtschaftswelt potenzieren sich die Auswirkungen der unterschiedlichen Krisen gegenseitig: Die allgemeine Produktionserholung nach dem Corona-bedingten Einbruch beispielsweise sorgt wieder für einen erhöhten Bedarf an Rohstoffen. Viele davon – im Automobilbereich u.a. konkret Steinkohle und Koks (Grundlage für die Stahlproduktion) sowie Palladium (wesentlicher Bestandteil für Katalysatoren) – kommen aus Russland. Durch die gegenwärtigen Sanktionen aufgrund des Kriegs in der Ukraine verschärft sich die ohnehin vorherrschende Knappheit. Die wenigen verfügbaren Rohstoffe sind kaum zu transportieren, weil die Lieferketten weltweit aus verschiedenen Gründen massiv gestört sind. Die Folge dieses „perfekten Sturms“: Ddie Kosten steigen – und das zusätzlich zu allgemeinen Trends wie der Dekarbonisierung, die für die Industrie kurzfristig ebenfalls zu einer weiteren Verteuerung der Produktion führen wird.
Abb. 2 – Export Koks (Anteil am EU27-Handel in Prozent der gesamten Produktion 2020)

Quelle: AlixPartners
Abb. 3 – Export Steinkohle (Anteil am EU27-Handel in Prozent der gesamten Produktion 2020)

Quelle: AlixPartners
Abb. 4 – Export Palladium (weltweiter Produktionsanteil in Prozent der gesamte Produktion 2020)

Quelle: AlixPartners
Abb. 5 – Export Neon (weltweiter Produktionsanteil in Prozent der gesamten Produktion 2020)

Quelle: AlixPartners
Neues Verhältnis zwischen Aufsichtsrat und Vorstand
Diese Rahmenbedingungen wirken sich in Unternehmen auf allen Ebenen aus – auch im Verhältnis zwischen Aufsichtsrat und Vorstand. Die wichtigste Frage lautet: Wie stellt ein Aufsichtsrat sicher, in einer zunehmend volatilen Welt Unternehmensrisiken korrekt und zeitnah zu identifizieren, in einem vernünftigen Maß zu kontrollieren und zu minimieren? Wie stark kann der Aufsichtsrat in Beschlüsse eingebunden werden, wenn strategisch relevante Entscheidungen manchmal innerhalb von Stunden gefällt werden müssen? Unstrittig ist, dass Unternehmen gegenüber Veränderungen von außen resilienter werden müssen. Dazu gehört auch, interne Prozesse den aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Die zunehmende Volatilität, davon bin ich überzeugt, wird das Verhältnis zwischen Aufsichtsrat und Vorstand dauerhaft neu formieren. Es bedarf einer Veränderung der Reporting- und Governance-Strukturen.
Dynamische Governance
Starre Governance-Prozesse, wie sie in vielen Unternehmen vorherrschen, gelangen durch die aktuellen Herausforderungen zunehmend an ihre Grenzen. Die Lösung liegt in einer anderen, einer dynamischeren Governance. Um in dem beschriebenen „New Normal“ seiner Funktion als oberstes Kontrollorgan gerecht werden zu können, muss der Aufsichtsrat effektive Leitplanken etablieren. Diese sind unter anderem:
- Erhöhte Sitzungsfrequenz und verstärkte Kommunikation
- Erweiterter Fokus auf Management der Zusatzrisiken
- Effiziente Analyse von Kontrollprozessen
Im Detail:
1. Wir sehen seit der COVID-19-Pandemie vielfach, dass der Austausch zwischen Aufsichtsrat und Management zugenommen hat. Die Kadenz der Aufsichtsratstermine hat sich erhöht – bei BENTELER beispielsweise finden Sitzungen inzwischen monatlich statt (anstelle von einmal pro Quartal wie in der Zeit vor Corona üblich). Wie in der gesamten Organisation ist auch beim Zusammenspiel zwischen Aufsichtsrat und Vorstand Flexibilität gefragt: Im Bedarfsfall – z.B. im Kontext des Ukraine-Kriegs, sind mittlerweile auch Ad-hoc-Treffen gebräuchlich. Diese Intensivierung des Dialogs setzt ein wachsendes Zeitbudget aller Beteiligten voraus, nutzt jedoch jedem Einzelnen: Der Aufsichtsrat kann seiner Kontrollfunktion gerecht werden, der Vorstand erhält zeitnah Rat und Rückendeckung für notwendige Managemententscheidungen.
2. Um Unternehmensrisiken adäquat beurteilen zu können, reicht verstärkte Kommunikation allein nicht aus. Der Aufsichtsrat muss den Fokus seiner Tätigkeit auf die Kontrolle solcher zusätzlichen externen Risiken richten – und dazu entsprechend befähigt werden. Essenziell hierfür sind strukturierte, tiefgehende Reportingunterlagen, die über Standardinformationen hinausgehen. Die Dokumente für unsere Aufsichtsräte bei BENTELER sind heute nicht nur deutlich detaillierter als früher – sie sind auch maßgeschneidert auf die aktuellen Herausforderungen. Die vergangenen Jahre haben uns gezeigt, wie wichtig es ist, Instrumente der Unternehmenssteuerung flexibel und zeitnah um neue Elemente zu ergänzen: Konkret haben wir beispielsweise das Monatsreporting und unseren Forecast-Prozess an die neuen Rahmenbedingungen angepasst. Dies erhöht die Transparenz im Unternehmen und fördert einen faktenbasierten Dialog auf Augenhöhe zwischen Aufsichtsrat und Vorstand.
3. In diesem Dialog kann der Aufsichtsrat als Kontrollorgan sicherstellen, dass ein Unternehmen auch auf kurzfristig eintretende, disruptive Marktverwerfungen Antworten hat. Während beispielsweise die Prüfung langfristiger strategischer Ausrichtungen und Trends schon immer einen wesentlichen Bestandteil der Aufsichtsratsarbeit darstellt, rückt der Fokus auf dieses jederzeit akute „Überraschungsmoment“ vielfach neu in den Tätigkeitsbereich. Der Aufsichtsrat kann hier als Sparringspartner des Vorstands sowohl die Krisenresistenz des Geschäftsmodells als auch Prozesse und Instrumente im Unternehmen verifizieren, die eine schnelle Reaktion auf unerwartete externe Herausforderungen ermöglichen. So kann er als Gremium dazu beitragen, die Resilienz eines Betriebs mittel- und langfristig ausreichend sicherzustellen.
Zusammengefasst zeigen diese Punkte: Mit einer dynamischen Governance birgt ein disruptives Marktumfeld nicht nur Risiken, sondern auch Chancen. Ein intensivierter Austausch zwischen Aufsichtsrat und Vorstand schafft Vertrauen auf beiden Seiten, erhöht die Geschwindigkeit von Entscheidungsfindungen und kann die Resilienz eines Unternehmens stärken – alles essenziell gerade unter volatilen Rahmenbedingungen. Zusätzliches Reporting erhöht die Transparenz, verbessert gleichzeitig die Steuerungsinstrumente und bildet damit die Basis für zuverlässige Prognosen. Diese wiederum unterstützt das Management dabei, valide Entscheidungen zu treffen. Oder erneut in den Worten von Henry Kissinger: „If you don’t know where you are going, every road will get you nowhere.“
Frank B. Jehle
CFO, Benteler International AG
Hier können Sie das gesamte Magazin als PDF herunterladen: