Corporate Governance Inside
Die große Disruption
Makro Trends: Die neue Risikolandschaft
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist in erster Linie eine humanitäre Tragödie. Er ist aber auch ein tiefer Einschnitt in das makroökonomische und geopolitische Umfeld, in dem Unternehmen operieren. Er verändert in beiden Dimensionen die Risiken, denen Unternehmen gegenüberstehen. Kurzfristig stehen dabei die Risiken für die deutsche und europäische Konjunktur im Vordergrund, ebenso wie Fragen zu Energiepreisen und der Energieversorgung.
Langfristig kann davon ausgegangen werden, dass neue strukturelle Risiken durch den Wandel in der internationalen Politik entstehen werden. Eine verstärkte Blockbildung auf der politischen Bühne hätte deutliche Folgen für Handel sowie internationale Investments und betrifft Unternehmen auf der Absatzseite, mehr jedoch die Lieferketten.
Stimmung und Unternehmenserwartungen sinken stark
Bis zum Kriegsbeginn am 24. Februar standen die Vorzeichen für die Konjunktur günstig, 2022 sollte das Jahr der Normalisierung nach der Corona-Pandemie werden. Die meisten Konjunkturforscher gingen davon aus, dass die Omikron-Welle die Konjunktur bis zum zweiten Quartal belasten würde, die Wirtschaft aber danach dynamisch wachsen und die Corona-bedingten Verluste schnell wettmachen würde. Hoffnung gaben Anfang des Jahres die leichte Entspannung bei den stark angeschlagenen Lieferketten sowie die hohe Konsum- und Investitionsbereitschaft.
Das Stimmungsbild in der deutschen Wirtschaft hat sich jetzt allerdings ins Negative gedreht. Der aktuelle Deloitte CFO Survey, eine halbjährliche Befragung unter 143 CFOs deutscher Großunternehmen, die im April durchgeführt wurde, zeigt einen scharfen Fall bei vielen Indikatoren.¹ Der Rückgang bei den Geschäftsaussichten der Unternehmen im Vergleich zu letztem Herbst ist der größte in der zehnjährigen Geschichte des Survey. Damit einher geht ein starker Rückgang der Investitionsabsichten, die aber immerhin noch im positiven Bereich bleiben, und eine noch stärkere Verringerung bei den Erwartungen bezüglich der operativen Margen.
Das Stimmungsbild in der deutschen Wirtschaft hat sich ins Negative gedreht.
Abb. 1 – Geschäftsaussichten deutscher Großunternehmen
Frage: Wie beurteilen Sie Sie die momentanen Geschäftsaussichten Ihres Unternehmens im Vergleich zu den Aussichten vor drei Monaten?

Quelle: Deloitte CFO Survey.
Die deutsche Konjunktur wird durch die verschlechterte Stimmung und die hohe Unsicherheit beeinflusst, aber auch von sehr handfesten Veränderungen wie den Preisen für Energie und Rohstoffe.
Unsicherheit und neue Risiken
Die Gründe dafür sind offensichtlich. Die Unsicherheit, die die CFOs im ökonomischen und finanziellen Umfeld wahrnehmen, ist wieder fast so hoch wie während der ersten Corona-Welle. Der Krieg in der Ukraine führt zu einer Neubewertung der wichtigsten Gefährdungspotenziale für deutsche Unternehmen. Aktuell stehen geopolitische Risiken ganz oben auf der Liste und stellen für über drei Viertel der befragten CFOs ein hohes Risiko in den kommenden zwölf Monaten dar. Genauso kritisch sehen die Vorstände die steigenden Energiekosten, nur knapp gefolgt von höheren Rohstoffkosten.
Ebenfalls keine guten Nachrichten gibt es für die Inflationserwartungen, die deutlich steigen. Während die CFOs im Herbst noch eine durchschnittliche Inflation von 3,2 Prozent für die nächsten zwölf Monate erwartet haben, verdoppelt sich dieser Wert im aktuellen Survey fast auf 6,1 Prozent. Auch in der Perspektive bis Ende 2023 erwarten die meisten CFOs keine Rückkehr zur Normalität. Nur eine sehr kleine Minderheit sieht bis dahin einen Rückgang auf den Zielwert von nahe 2 Prozent. Inflationsraten zwischen 3 und 4 Prozent oder von deutlich über 4 Prozent halten die allermeisten CFOs für realistischer. Die hohe Inflation wäre somit keineswegs eine schnell vorübergehende Erscheinung.
Der Einfluss auf die deutsche Konjunktur
Die deutsche Konjunktur wird durch die verschlechterte Stimmung in den Unternehmen und die hohe Unsicherheit beeinflusst, aber auch von sehr handfesten Veränderungen wie den Preisen für Energie und Rohstoffe. Dazu kommen Rezessionssorgen in den USA als Folge der veränderten Zinspolitik und die Lockdowns in China mit ihren Folgen für das Wirtschaftswachstum und die Lieferketten. Diese neuen Unsicherheiten machen exakte Konjunkturprognosen schwierig, es lassen sich aber Szenarien ableiten, die die Konjunktur in Abhängigkeit vom Verlauf des Krieges schätzen. Deloitte Research hat in diesem Zusammenhang drei Szenarien für die deutsche Konjunktur in Abhängigkeit von der Dauer des Krieges entwickelt.² Szenario 1 nimmt eine zeitnahe diplomatische Lösung bis zum Ende des zweiten Quartals an; Szenario 2 eine Fortdauer bis in den Herbst hinein; Szenario 3 geht von einer Fortdauer bis in das Jahr 2023 aus. Jedes dieser Szenarien geht mit unterschiedlichen Energiepreisen für Öl und Gas einher sowie mit einem unterschiedlich hohen Unsicherheitsschock. Diese Veränderungen wirken dann auf das Investitionsverhalten der Unternehmen und auf die Nachfrage der Konsumenten.
Drei Konjunkturszenarien
Diese Einflussfaktoren zusammengenommen führen im Vergleich zur Vorkriegsprognose von 3,5 Prozent Wachstum und 3,9 Prozent Inflation zu folgenden Ergebnissen: Im Szenario einer baldigen Lösung des Konflikts würde der konjunkturelle Effekt im Vergleich zur Vorkriegsprognose relativ gering ausfallen und das Wachstum 3 Prozent betragen. Die Inflation würde leicht auf 4,1 Prozent steigen.
Sollte der Krieg bis in den Herbst andauern, mit entsprechenden Auswirkungen auf Energiepreise und Lieferketten, dürfte das Wachstum um 1,2 Prozentpunkte auf 2,3 Prozent sinken; die Inflation würde auf 5,1 Prozent steigen. Im Downside-Szenario eines Krieges bis ins Jahr 2023 hinein könnte das Wachstum auf 0,6 Prozent zurückgehen und die Inflation deutlich auf 8,3 Prozent steigen. In diesem Szenario wäre Stagflation – also niedriges oder stagnierendes Wachstum, gekoppelt mit hoher Inflation – eine sehr reale Bedrohung.
Abb. 2 – Inflations- und BIP-Wachstumsraten nach Szenarien (2022, in Prozent)

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wird das Szenario einer baldigen Lösung des Krieges leider immer unwahrscheinlicher, da kaum Anzeichen in diese Richtung zu erkennen sind. Eine Fortsetzung des Krieges bis zum Herbst ist unser Baseline-Szenario; allerdings müssen auch ein lang anhaltender Krieg und damit starke Stagflationsgefahren als Szenario ernst genommen und bedacht werden. In jedem Fall sind der Aufholprozess nach der Corona-Pandemie und eine wirtschaftliche Normalisierung erst einmal unterbrochen.
Immerhin würde Deutschland in keinem der betrachteten Szenarien in eine Rezession rutschen. Dies könnte sich allerdings dann ändern, wenn ein Stopp der russischen Gaslieferungen oder ein europäisches Gas-Embargo eintritt. Es herrscht hohe Unsicherheit über die Effekte in einem solchen Schritt, genauso wie darüber, ob sie hauptsächlich 2022 oder 2023 eintreten würden. Die Mehrheit der Volkswirte erwartet aber in jedem Fall einen Rückgang der Wirtschaftsleistung gegenüber ihren jeweiligen Prognosen; die Bundesbank geht beispielsweise von einem Effekt von -5 Prozent in diesem und -3,5 gegenüber ihrem Basisszenario im nächsten Jahr aus, die Wirtschaftsforschungsinstitute gehen von -0,8 in diesem und über -5 Prozent im nächsten Jahr aus.
Die langfristigen Risiken
Langfristig könnten die Veränderungen, die der Krieg hervorruft, noch sehr viel tiefgreifender sein. Der Umbau der deutschen Energieversorgung ist ein offenkundiges Thema. Genauso muss sich die exportorientierte deutsche Wirtschaft aber auch auf mögliche Veränderungen im geopolitischen Umfeld einstellen. Sie ist in besonders hohem Maße auf offene Weltmärkte angewiesen, die letzten Endes auf politischer Kooperation und politischem Konsens beruhen.
Dieser Konsens ist bereits seit einigen Jahren unter Druck. Treiber der Globalisierung war in den letzten Jahrzehnten die Entstehung globaler Wertschöpfungsketten – ein Prozess, der von einigen Autoren als Hyperglobalisierung bezeichnet wird. Dieser Trend setzte mit dem Fall der Mauer 1989 ein und beschleunigte sich bis zur Finanzkrise dank der Integration Osteuropas und vor allem Chinas in die Weltwirtschaft enorm. Die neue Welle an Informationstechnologie ermöglichte die grenzüberschreitende Koordination von Lieferketten, die heute für zwei Drittel des Welthandels verantwortlich sind.
Die Finanzkrise stoppte allerdings das rasante Wachstum der Lieferketten. Seit 2011 sind die Zuwachsraten des Welthandels mäßig. Neue Handelsbeschränkungen – Zölle, aber auch andere Handelsbeschränkungen – sind weltweit seit der Finanzkrise gestiegen und behindern diese Entwicklung. Zusätzlich hat sich auch die Unsicherheit in den 2010er-Jahren negativ ausgewirkt. Politische Ereignisse wie die Eurokrise, der Brexit oder die US-amerikanische Handelspolitik der Trump-Administration verursachten Unsicherheit und belasteten den internationalen Handel. Die Corona-Krise hat zusätzlich die Lieferketten unter Druck gesetzt, wenn sie sich auch überraschend schnell erholten.
Geopolitik, Globalisierung und die Unternehmenserwartungen
In dieser Gemengelage verstärkt der Ukraine-Krieg die negativen Trends und steigert die geopolitischen Spannungen. Laut dem Deloitte CFO Survey rechnen über 80 Prozent der CFOs mit einer verstärkten Blockbildung in der internationalen Politik und fast 60 Prozent mit künftigen politischen Hindernissen für Handel und Investitionen. Damit stehen Fragen zu Abhängigkeiten von einzelnen Ländern als Absatzmärkte oder auch Produktionsstandorte ganz oben auf der unternehmerischen Agenda.
Die deutschen CFOs setzen laut der Umfrage dabei als Reaktion im Bereich Lieferketten vor allem auf eine Diversifizierung der Lieferanten und eine verstärkte Zusammenarbeit, ebenso auf Stresstests. Die sehr grundsätzliche und strategische Frage von Produktionsverlagerungen beziehungsweise der Re-Evaluierung von Standorten steht im Moment nur bei einer Minderheit auf der Tagesordnung. Allerdings sind die Branchenunterschiede groß. In der Autoindustrie beispielsweise sind es über die Hälfte der befragten Unternehmen, die Produktionsverlagerungen erwägen. Insofern könnte der Ukraine-Krieg durchaus ein Auftakt zu einer Neustrukturierung von Lieferketten in einigen Sektoren sein.
Insgesamt bedeutet die Unsicherheit bezüglich der Entwicklungen in der internationalen Politik, dass geopolitische Risiken und ihr Management länger auf der unternehmerischen Agenda bleiben und die 2020er-Jahre stark prägen dürften. Konstantes Monitoring der politischen Risiken, die Analyse der unternehmerischen Auswirkungen und entsprechende strategische Positionierungen können im neuen Umfeld ein entscheidender Erfolgsfaktor werden.
¹ Deloitte Economic Trend Briefings. Stimmungsumschwung in den deutschen Unternehmen – Flash-Ergebnisse des Deloitte CFO Survey Frühjahr 2022, https://www2.deloitte.com/de/de/blog/economic-trend-briefings/2022/cfo-survey-fruehjahr-2022.html.
² Deloitte Economic Trend Briefings. Konjunkturelle Implikationen des Ukraine-Krieges für Deutschland: Drei Szenarien, https://www2.deloitte.com/de/de/blog/economic-trend-briefings/2022/konjunkturelle-implikationen-ukraine-krieg.html.
Dr. Alexander Börsch Chefökonom & Director Research
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