Corporate Governance Inside
Digitale Transformation
Geopolitische Umbrüche und unternehmerische Resilienz
Implikationen für Aufsichtsräte
Eine neue geopolitische Ära
Das geopolitische Umfeld für Unternehmen hat sich radikal gewandelt. Statt ökonomischer Liberalisierung wie in den 1990er- und 2000er-Jahren sind die neuen Schlagwörter Fragmentierung, Decoupling und Blockbildung. Aktuelle Auslöser sind neben dem Krieg in der Ukraine vor allem die geopolitischen Spannungen zwischen den USA und China. Allerdings dauert dieser Prozess schon länger an; seit der Finanzkrise haben Letztere und der Protektionismus langsam zugenommen, die Krim-Invasion Russlands 2014 und der Handelskrieg China/USA unter der Trump-Administration sind Beispiele.
Es zeichnet sich ab, dass diese geopolitischen Umbrüche eine neue Ära einläuten. Nach dem Fall der Berliner Mauer begann die Zeit der sogenannten Hyperglobalisierung. Getrieben wurde sie vom Aufbau global vernetzter Lieferketten, von Liberalisierung und der Öffnung Chinas durch den Beitritt zur Welthandelsorganisation. Nach der Finanzkrise legte die Globalisierung wegen des steigenden Protektionismus eine Pause ein, die vom britischen Magazin Economist als „Slowbalization“ bezeichnet wurde. Nun sieht der Internationale Währungsfonds die Ära der geoökonomischen Fragmentierung heraufziehen, in der die Integration der Weltwirtschaft stark infrage gestellt ist.
Für Unternehmen und Aufsichtsräte bedeutet dies, dass neue strategische Aspekte in den Mittelpunkt rücken und geopolitische sowie geoökonomische Themen zentral werden. Dazu gehört der Zugang zu Rohstoffen ebenso wie politische Risiken auf den Absatzmärkten, in der Lieferkette und bei Investitionen. Unternehmen müssen Strategien entwickeln, um diese Risiken zu bewältigen und ihre geoökonomische Resilienz zu erhöhen.
Geoökonomische Fragmentierung in Aktion
Die deutschen Unternehmen sind von dieser geoökonomischen Fragmentierung in besonderer Weise betroffen. Unter den großen Volkswirtschaften ist Deutschland mit Abstand am meisten vom Export und damit von offenen Märkten abhängig, während gleichzeitig die Auslandsinvestitionen hoch und die Lieferketten globalisiert sind. Nicht verwunderlich ist deswegen, dass für deutsche Großunternehmen laut dem Deloitte CFO Survey geopolitische Risiken am aktuell wichtigsten sind.1
Der Handlungsdruck kommt von mehreren Seiten und ist längst nicht alleine vom Krieg in der Ukraine getrieben. Einerseits ist der Protektionismus im globalen Handel auf dem Vormarsch. Laut dem Global Trade Alert der Universität St. Gallen nehmen nicht nur traditionelle protektionistische Maßnahmen im Güterhandel zu. Auch die Beschränkungen für den am schnellsten wachsenden Bereich des Handels, den Dienstleistungshandel, wachsen erheblich. Dazu kommen noch weitere Interventionen im Bereich der Investitions- und Exportbeschränkungen; hier steht vor allem der Hightech- und Halbleiterbereich im Fokus.
Auf kontinentaler Ebene hat die Europäische Union 2020 eine Investitionskontrolle eingeführt, und in Deutschland fallen seit 2021 neue Sektoren unter die Investitionsprüfung. Dazu gehören insbesondere Unternehmen aus Zukunfts- und Technologiesektoren, wie künstliche Intelligenz, Cybersicherheit, Quanteninformatik, Luft- und Raumfahrt oder kritische Rohstoffe. Gleichzeitig prüft die EU-Kommission, ob nicht nur eingehende, sondern auch ausländische Investitionen europäischer Unternehmen von einem Investitionsscreening erfasst werden sollten.
Es zeichnet sich ab, dass die geopolitischen Umbrüche eine neue Ära einleiten.

Die neuen Risiken für Unternehmen
Neben den strukturellen Verschiebungen gibt es auch sehr konkrete geopolitische Risiken und Szenarien auf dem Radar von Unternehmen. Laut dem aktuellen Deloitte CFO Survey befürchten die meisten Teilnehmer eine Ausweitung des Russland-Ukraine-Krieges. Knapp dahinter rangieren Cyberattacken und an dritter Stelle der China-Taiwan-Konflikt, dessen Eskalation für fast die Hälfte der Unternehmen ein hohes Risiko darstellt.
Dabei gehen die Auswirkungen dieses möglichen Konfliktes weit über das Thema der Halbleiter hinaus und betreffen genauso die Lieferketten, die im Falle eines Konflikts schwer beeinträchtigt sein dürften. Immerhin ist die Straße von Taiwan die wichtigste Schiffsroute zwischen Asien und Europa. Dies erklärt auch, warum vor allem in der Konsumgüter- und der Handelsbranche die Befürchtungen über einen China-Taiwan-Konflikt besonders ausgeprägt sind. Dies deutet darauf hin, dass mögliche Blockaden der Schifffahrtsrouten Lieferketten und Gütertransporte schwer in Mitleidenschaft ziehen würden.
Generell zeigt dies, dass Unternehmen aus allen Industrien von der neuen geoökonomischen Risikolandschaft betroffen sein können. Dies kann in der Lieferkette und bei Investitionen generell der Fall sein, aber auch genauso in Forschung und Entwicklung; beim Zugang zu Rohstoffen, staatlichen Fördermitteln, Kapital und Märkten; bei dem Austausch digitaler Daten oder auch der Gewinnung von Mitarbeitern.
Resilienz im geografischen Fußabdruck
Die geopolitischen Risiken führen zu einer fundamentalen Neuorientierung in den Strategien der Unternehmen. Laut dem Deloitte CFO Survey möchte fast die Hälfte der Teilnehmer den geografischen Fußabdruck ihrer Zielmärkte verändern. Im Maschinenbau und im Technologiesektor trifft dies sogar auf drei Viertel der Unternehmen zu. Änderungen beim Bezug von Vorleistungen und Rohstoffen ist für eine große Mehrheit der Konsumgüterunternehmen ein Thema, in der Autoindustrie möchte eine Mehrheit die Produktionsstandorte verlagern.
Das übergeordnete Ziel ist dabei geopolitische Resilienz. Mehr als die Hälfte aller Unternehmen möchte sie über Diversifizierung der Lieferketten erhöhen; in der Chemie- und der Technologiebranche sind es über 85 Prozent. Insofern ist Effizienz in den Lieferketten nicht mehr das alleinige Kriterium, just in case statt just in time wird zur Realität. In den konsumnahen Sektoren spielt auch die Regionalisierung der Lieferketten eine zentrale Rolle; hier verstärken sich Resilienz und Nachhaltigkeitsbestrebungen gegenseitig. Die allgemeine Zunahme der Bedeutung dieser Risiken zeigt sich auch darin, dass geopolitische Szenarioanalysen und Stresstests für viele Unternehmen zu einem wichtigen Instrument im Umgang mit den entsprechenden Risiken werden.
Recoupling statt Decoupling
Ein wichtiger Trend bei dieser grundlegenden Neuausrichtung der Lieferketten ist, dass sie sich nicht unbedingt verkürzen oder dass der Heimatstandort notwendigerweise eine wichtigere Rolle spielt. Obwohl es für eine abschließende Beurteilung des Trends zu früh ist, zeichnet sich ab, dass die Unternehmen nicht deglobalisieren, sondern dass die Globalisierung eine andere Form annimmt und neue Länder in den Fokus rücken.
Ein Beleg dafür sind die Investitionspläne der Survey-Teilnehmer. Die deutschen Unternehmen beabsichtigen, vor allem in den USA ihre Investitionen zu steigern. Aber auch Indien steht im Fokus. Das Land hat im Frühjahr dieses Jahres China als bevölkerungsreichstes Land der Welt überholt. Dies ist ein demografischer Meilenstein, Indien dürfte wegen des demografischen Rückenwindes in den nächsten Jahren eine Wachstumslokomotive der Weltwirtschaft und damit wichtiges Ziel für deutsche Auslandsinvestitionen werden, vor allem für die Auto-, Maschinenbau- und Chemieindustrie. Aus sehr ähnlichen Gründen wird auch Südostasien zu einer Region, in der die deutschen Investitionen steigen werden.
Unternehmen aus allen Industrien können von der neuen geopolitischen Risikolandschaft betroffen sein.

Entscheidend für die deutsche Industrie ist neben den Absatzmärkten auch zunehmend der Zugang zu Rohstoffen. Dadurch werden Mittel- und Südamerika verstärkt zum Investitionsziel. Auffällig ist auf der anderen Seite, dass die Unternehmen ihre Investitionen in China verringern wollen. Vor allem in der Chemie- und der Konsumgüterindustrie ist der Trend sehr stark. Geopolitische Risiken haben also bereits jetzt einen erheblichen Einfluss auf Investitionen.
Implikationen für Aufsichtsräte
Diese grundlegenden Umbrüche im Unternehmensumfeld erfordern, dass sich die Verantwortlichen aktiv darauf einstellen müssen. Kaum ein Unternehmen, das international aufgestellt ist, dürfte von den Auswirkungen dieser Umbrüche unberührt bleiben, sei es auf der Seite der Absatzmärkte oder der Lieferketten.
Aufsichtsräte sollten den geopolitischen Wandel prominent auf ihre Agenda setzen. Ein tiefes Verständnis der Auswirkungen auf die eigenen Unternehmensstrategien und Operations wird ein sehr wichtiger Teil des Risikomanagements sein und zum Wettbewerbsvorteil werden. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen geopolitische und geoökonomische Trends und Risiken in den Strategieprozess integriert werden.
Dabei kommt es darauf an, dass die richtigen Prozesse und Frameworks etabliert werden, um dieses Potenzial zu heben. Geopolitische und geoökonomische Trendanalysen, Szenarien, Impact-Analysen und Stresstests können hier wertvolle Hilfestellungen leisten.
In diesem Kontext liefern die folgenden Fragen einen ersten Anstoß:
- Wie kann geoökonomische Expertise im Unternehmen auf- und ausgebaut werden?
- Wo liegen die Abhängigkeiten und Verletzlichkeiten des eigenen Unternehmens?
- Welchen Einfluss haben geoökonomische Trends und Risiken auf Märkte, Lieferketten und Investments des Unternehmens?
Durch das konfliktreichere und komplexere wirtschaftliche Umfeld erhält unternehmerische Resilienz eine neue Dimension, die kritisch für Erfolg und Strategien ist. Diese Relevanz der geoökonomischen Dimension erfordert, dass Aufsichtsräte sie sehr sorgfältig in ihrer Arbeit berücksichtigen. Ein systematischer Ansatz erlaubt Unternehmen, besser durch die Volatilitäten und Unsicherheiten dieser neuen Ära zu navigieren.
¹ Deloitte CFO Survey Frühjahr 2022, Wirtschaftliche Erholung mit geopolitischen Risiken, https://www2.deloitte.com/de/de/pages/finance-transformation/articles/cfo-survey.html
Dr. Alexander Börsch Chefökonom & Director Research
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