Corporate Governance Inside Legislation & Jurisdiction
Virtuelle Hauptversammlung
Rein virtuelle Hauptversammlungen ohne die Präsenz der Aktionäre waren früher nicht möglich und von der Möglichkeit, Hauptversammlungen hybrid durchzuführen und Aktionären neben der Teilnahme in Präsenz auch die virtuelle Teilnahme zu ermöglichen, wurde nur selten Gebrauch gemacht. Zu Beginn des Jahres 2020 hatte der Gesetzgeber unter dem Eindruck der COVID-19-Pandemie zum ersten Mal die Möglichkeit rein virtueller Hauptversammlungen für deutsche Aktiengesellschaften geschaffen, die 2022 nun dauerhaft eingeführt wurde.
Die 2020 durch das „Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie“ eingeführten Regelungen galten auch für Kommanditgesellschaften auf Aktien und SEs; sie waren von Beginn an befristet, wurden aber im Laufe der Pandemie verlängert und dabei partiell zugunsten von Rechten der Aktionäre modifiziert.
Geschätzt wurden an der virtuellen Hauptversammlung seitens der Unternehmen die Möglichkeit, Fragen vorab beantworten und dadurch die Hauptversammlung entlasten zu können, sowie vor allem die Flexibilität und die Kostenvorteile, die mit einer virtuellen Hauptversammlung verbunden sind. So ist keine große Halle erforderlich, in der tagelang vorher die dafür notwendige Technik aufgebaut wird, ebenso kein Catering und auch kein großes Backoffice – gerade wenn Fragen vorher beantwortet und keine weiteren Fragen und unangekündigten Anträge gestellt werden konnten. Nicht zuletzt hat hierdurch auch die Teilnahme an den Hauptversammlungen zugenommen.
Nachdem die pandemiebedingten Sonderregelungen ausliefen, hat der Gesetzgeber mit dem neuen „Gesetz zur Einführung virtueller Hauptversammlungen von Aktiengesellschaften und Änderung genossenschafts- sowie insolvenz- und restrukturierungsrechtlicher Vorschriften“ Regelungen in das Aktiengesetz integriert, die es den Gesellschaften nun dauerhaft ermöglichen, Versammlungen ohne die physische Präsenz ihrer Aktionäre durchzuführen. Diese neuen Vorschriften sind am 27. Juli 2022 in Kraft getreten und ermöglichen nun zudem auch für Genossenschaften virtuelle Generalversammlungen.
Damit hat der Gesetzgeber einen Rahmen geschaffen, der auch international inzwischen Standard ist: Auch in den USA, Großbritannien, den Niederlanden oder etwa Japan wurde zwischenzeitlich entsprechende Möglichkeiten geschaffen. Nicht zuletzt wird mit diesem Ansatz die Hoffnung verbunden, die (virtuelle) Präsenz der Aktionäre weiter zu erhöhen, da die virtuelle Teilnahme an der Hauptversammlung auch für die Aktionäre und ihre Vertreter erhebliche Zeitgewinne mit sich bringt und der Besuch der Hauptversammlung keine Reisekosten mehr verursacht. Auch ESG-Gesichtspunkte können daher für eine virtuelle Versammlung sprechen.
Doch auch wenn der Gesetzgeber einige Vorschriften dauerhaft übernommen hat, weist das neue Regelungsregime erhebliche Unterschiede zu dem Rechtsrahmen für virtuelle Hauptversammlungen auf, der während der Pandemie galt. Denn der Gesetzgeber hat nunmehr versucht, die Prozesse und die Aktionärsrechte, die aus Präsenzversammlungen bekannt waren, möglichst exakt digital abzubilden. Zahlreiche während der Pandemie geltende Einschränkungen der Aktionärsrechte gelten daher nicht mehr.
Einige der neuen Regeln sollen im Folgenden überblicksartig dargestellt werden.
1. Satzungsgrundlage erforderlich
Eine der zentralen neuen Vorschriften für virtuelle Hauptversammlungen stellt § 118a AktG dar. Danach kann die Satzung vorsehen oder den Vorstand ermächtigen, die Hauptversammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre abzuhalten. Die Aktionäre können also virtuelle Hauptversammlungen als grundsätzliche Hauptversammlungsart festlegen. Sie können sich aber auch für die flexiblere Option entscheiden, den Vorstand dies entscheiden zu lassen – wobei er allein entscheiden kann und keine Zustimmung des Aufsichtsrats erforderlich ist. Die Aktionäre können aber auch keine Satzungsänderung beschließen, sodass die Versammlungen traditionell in Präsenz stattzufinden haben.
Zu beachten ist, dass diese Satzungsregelungen stets nur für maximal fünf Jahre gelten; danach bedarf es einer neuen Zustimmung der Aktionäre – was zeigt, dass der Gesetzgeber diese Option letztlich doch als ein Minus im Vergleich zur physischen Versammlung ansieht.
Für virtuelle Hauptversammlungen, die bis zum 31. August 2023 einberufen werden, bedarf es noch keiner satzungsmäßigen Grundlage. Basierend auf einer Übergangsvorschrift kann der Vorstand bis dahin zusammen mit dem Aufsichtsrat entscheiden, dass die Versammlung als virtuelle Hauptversammlung abgehalten wird.
2. Änderung des Antrags- und Rederechts
Die neuen Regeln räumen den virtuell teilnehmenden Aktionären das Recht ein, in der Versammlung Anträge und Wahlvorschläge im Wege der Videokommunikation zu stellen; dies war zu Zeiten der Pandemie nicht der Fall. Während der Gesetzesentwurf allerdings noch die Möglichkeit vorsah, derartige Anträge auch durch eine entsprechende Funktion im Textfeld des Aktionärsportals bzw. durch einfache E-Mails an die Gesellschaft übermitteln zu können, besteht diese Option nun nicht mehr.
Die neuen Regeln räumen den Aktionären während der Versammlung auch ein Rederecht ein. Den elektronisch zugeschalteten Aktionären muss es in der Versammlung möglich sein, dieses Rederecht auszuüben. Die Details dazu ergeben sich aus § 130a AktG n.F., insbesondere ist hierbei auf die verpflichtende Zwei-Wege-Direktverbindung hinzuweisen. Andere Länder sind hier großzügiger; dort genügt es teilweise, wenn die Aktionäre hören und gehört werden können.
3. Vollwertiges Auskunfts- und Fragerecht
Während den virtuell teilnehmenden Aktionären während der COVID-19-Pandemie von Gesetzes wegen lediglich ein Fragerecht zustand, steht ihnen nun ein vollumfängliches Auskunfts- und Fragerecht zu, das im Wege der elektronischen Kommunikation einzuräumen ist und das mit demjenigen in der physischen Hauptversammlung nahezu identisch ist.
Sofern der Vorstand bei einer virtuellen Hauptversammlung vorgibt, dass Fragen der Aktionäre bis spätestens drei Tage vor der Versammlung im Wege der elektronischen Kommunikation einzureichen sind, hat die Gesellschaft die ordnungsgemäß eingereichten Fragen vor der Versammlung zugänglich zu machen und bis spätestens einen Tag vor der Versammlung zu beantworten. Eine vergleichbare Regelung enthielt das GesRuaCOVBekG nicht. Ferner hat der Vorstand dann seinen Vorstandsbericht (zumindest seinem wesentlichen Inhalt nach) bis spätestens sieben Tage vor Versammlungsbeginn zugänglich zu machen.
Weiterhin ist jedem elektronisch zugeschalteten Aktionär während der Versammlung im Wege der elektronischen Kommunikation ein Nachfragerecht zu allen vor und in der Versammlung gegebenen Antworten des Vorstands einzuräumen. Sofern einem Aktionär die Auskunft verweigert wird, hat dieser das Recht, dass seine Frage und der Grund, aus dem die Auskunft verweigert worden ist, in die Niederschrift über die Verhandlung aufgenommen werden. Dieses Recht muss nunmehr auch virtuell teilnehmenden Aktionären gewährleistet werden.
Aus § 131 Abs. 1b AktG n.F. ergibt sich zudem, dass der Umfang der im Vorfeld eingereichten Fragen in der Einberufung angemessen beschränkt werden kann. Was genau in diesem Zusammenhang unter einer angemessenen Beschränkung zu verstehen ist, lässt der Gesetzeswortlaut zwar offen. Aus der Gesetzesbegründung lässt sich jedoch entnehmen, dass bei der Bewertung der Angemessenheit der zu erwartende Gesamtzeitrahmen der Versammlung zugrunde zu legen ist und die Beschränkung der Anzahl der Fragen insbesondere dann angemessen ist, wenn sie sich grundsätzlich an der in den vergangenen (virtuellen) Hauptversammlungen durchschnittlich eingereichten Anzahl an Fragen orientiert. Dies gilt jedenfalls dann, wenn sich die Tagesordnungspunkte der Versammlungen weitestgehend entsprechen.
4. Elektronische Stimmrechtsausübung
Ebenso wie im GesRuaCOVBekG erfolgt die Stimmrechtsausübung der Aktionäre bei virtuellen Hauptversammlungen gemäß § 118a Abs 1 S. 2 Nr. 2 AktG n.F. per elektronischer Teilnahme, Briefwahl oder durch einen Bevollmächtigten. Während die Vollmachtserteilung vonseiten der Gesellschaft immer ermöglicht werden muss, steht ihr im Zusammenhang mit der elektronischen Teilnahme und der Briefwahl ein Wahlrecht zu. Sie kann sich also entweder für eine der beiden Stimmrechtsausübungsmethoden entscheiden oder festlegen, dass beide Varianten möglich sind, wobei auch die Briefwahl in elektronischer Form abzuhalten ist.
5. Ort der Hauptversammlung
Auch wenn eine Hautversammlung ohne physisch anwesende Aktionäre abgehalten wird, sind einige andere Personenkreise weiterhin verpflichtet, während der Hauptversammlung an dem physischen Veranstaltungsort präsent zu sein. Dazu gehören nach § 118a Abs. 2 AktG n.F. die Mitglieder des Vorstands und grundsätzlich auch die des Aufsichtsrats. Gleiches gilt für den Versammlungsleiter und ggf. bestellte Abschlussprüfer. Für von der Gesellschaft benannte Stimmrechtsvertreter besteht hingegen eine Wahlmöglichkeit, ob sie an der Veranstaltung physisch oder virtuell teilnehmen. Darüber hinaus gibt § 130 Abs. 1a AktG n.F. vor, dass auch der Notar physisch am Versammlungsort anwesend sein muss.
6. Aufnahme in das Teilnehmerverzeichnis
Im Gegensatz zum GesRuaCOVBekG müssen nunmehr auch die elektronisch zu der Versammlung zugeschalteten Aktionäre (bzw. deren Vertreter) in das Teilnehmerverzeichnis mit aufgenommen werden. Auch hierdurch möchte der Gesetzgeber die physische und die virtuelle Hauptversammlung aneinander angleichen. Es sind in das Teilnehmerverzeichnis jedoch nur solche Aktionäre aufzunehmen, die so zugeschaltet sind, dass sie Teilnehmerrechte ausüben und daher auch durch die Gesellschaft identifiziert werden können.
7. Übertragungspflicht und technische Probleme
Die Gesellschaft hat die Pflicht, die Hauptversammlung zum Zwecke der virtuellen Teilnahme vollständig mit Bild und Ton zu übertragen.
Technische Störungen können aber auftreten und den Aktionären die elektronische Teilnahme an der Hauptversammlung erschweren oder gar unmöglich machen. Insbesondere problematisch ist dies, wenn die Gesellschaft während der technischen Probleme Beschlüsse fasst, zu denen sich einige Aktionäre aufgrund dieser Probleme überhaupt nicht äußern konnten.
Mit Blick auf die Risiken der technischen Probleme hat der Gesetzgeber auch das Anfechtungsrecht reformiert: Danach können Beschlüsse bei technischen Problemen dann angefochten werden, wenn die Gesellschaft die technischen Probleme vorsätzlich oder grob fahrlässig verursacht hat. Während der Pandemie waren derartige Beschlüsse nur bei vorsätzlichem Handeln der Gesellschaft anfechtbar.
8. Zusammenfassung und Ausblick
Insgesamt hat der Gesetzgeber einen Regelungskanon geschaffen, der in weiten Teilen an die klassischen Präsenzversammlungen angelehnt ist. Seine Absicht hat der Gesetzgeber damit erfüllt. Gleichzeitig führt die konkrete Ausgestaltung aber dazu, dass bestimmte Rechte, die während der Pandemie geschätzt wurden, weniger attraktiv geworden sind. Dies gilt insbesondere für die Möglichkeit, Antworten auf Fragen vorab vorbereiten zu können – was nun angesichts der Vorabveröffentlichungspflicht bei Nachfragen und ähnlichen Fragen zu zusätzlichen Anfechtungsrisiken führen kann. Insgesamt ist aber die Möglichkeit sehr zu begrüßen, nun auch dauerhaft virtuelle Hauptversammlungen abhalten zu können, ohne die Rechte der Aktionäre dabei zu sehr zu beschneiden.
Dr. Volker Schulenburg Partner | Corporate/M&A | Deloitte Legal Deutschland
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