Corporate Governance Inside
Audit & Assurance
Risiken für deutsche Unternehmen in der Energiekrise
1. Die Energiekrise als Ausgangspunkt
Aktuelle Risikoentwicklungen aus den Schockwirkungen der globalen Energiekrise als maßgebliche Folge des Ukraine-Konflikts stellen Geschäftsmodelle etlicher deutscher Unternehmen gegenwärtig vor enorme Herausforderungen. Diese betreffen nahezu alle Branchen in einem bislang praktisch unbekannten Ausmaß und erfordern sowohl eine akute Krisenbewältigung als auch ein robustes Risikomanagement. Unternehmen sind von enormen Preisrisiken bei der Energiebeschaffung, von Unsicherheit bei der Versorgungssicherheit und anderen Begleitrisiken der Energiekrise betroffen und sehen nicht selten bei weiter anhaltenden oder gar adversen Entwicklungen eine Fortführung der Unternehmenstätigkeiten als gefährdet an. Auch im Kontext mit Wechselwirkungen und anderen globalen Herausforderungen – wie beispielsweise Auswirkungen der in Teilen anhaltenden COVID-19-Pandemie oder dem immer größer werdenden Einfluss des Klimawandels – sind die Folgen der Energiekrise adäquat zu steuern. Unternehmensleitungen und Aufsichtsgremien sind vor diesem Hintergrund mehr denn je hinsichtlich ihrer Einrichtungs- und Überwachungspflichten der relevanten Corporate Governance Systeme gefordert. Vorstände und Geschäftsleitungen müssen auf die gegenwärtigen sowie zukünftigen Herausforderungen der Energiekrise kurzfristig ganzheitliche Antworten zur frühzeitigen und fortlaufenden Risikoanalyse und -steuerung bereithalten, um den Unternehmensfortbestand insgesamt und insbesondere die Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig zu sichern. Gleichzeitig müssen Prüfungsausschüsse und Aufsichtsräte die Überwachung der entsprechenden Maßnahmen sicherstellen.Als übergeordnetes und zentrales Steuerungsinstrument dient hierbei ein funktionsfähiges Risikomanagementsystem in Verbindung mit einem adäquaten Business Continuity Management, welche sowohl eine ganzheitliche Transparenz bezüglich relevanter Risiken als auch die notwendige Reaktionsfähigkeit durch Maßnahmen für eine hinreichende Resilienz des Unternehmens sicherstellen.
2. Wesentliche Risiken als Auswirkungen der Energiekrise in der deutschen Realwirtschaft
Durch maßgeblich geopolitisch bedingte Einschnitte des Ukraine-Konflikts bestehen insbesondere enorme Preis- und Versorgungsrisiken für Erdgas – einen der wichtigsten Energieträger für praktisch alle Branchen in Deutschland. Ähnliche Implikationen existieren ebenso für weitere Energie-Commodities, darunter insbesondere Öl und Strom. Der hohe Risikofaktor für den Bezug von Erdgas resultiert maßgeblich aus historisch hohen Abhängigkeiten von wenigen Lieferantenländern: Im Jahr 2020 wurden noch 55 Prozent des Gasbezugs in Deutschland aus Russland geliefert, Ende April 2022 waren es nur noch 35 Prozent und bis 2024 soll Deutschland komplett unabhängig vom russischen Gas werden (vgl. Handelsblatt, 14.01.2023). Für das ökonomische Szenario eines sofortigen Gasembargos ebenso wie für einen indirekten Gasbezug von Russland gehen Experten von einem kurzfristigen Rückgang der gesamtwirtschaftlichen Produktion um 3,2 bis 8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus (vgl. Krebs 2022). Kurzfristig ist es anspruchsvoll, auf diese Versorgungsrisiken zu reagieren, da Deutschland und somit dessen Industrie zum aktuellen Zeitpunkt nicht über die notwendige Infrastruktur, beispielsweise in Form von ausreichend Flüssiggas-Terminals, verfügen, um die Mengen durch Lieferungen aus den USA, dem Nahen Osten oder anderen Bezugsquellen in einem erforderlichen Zeitrahmen zu substituieren. Rigiditäten in der europäischen Beschaffungspolitik erhöhen zudem die Volatilität auf den Energiemärkten. Dies führt nicht nur dazu, dass die gesamte Energiebeschaffungs- sowie Netzindustrie vor neuen Herausforderungen steht, sondern auch, dass Unternehmen deren bisherige fossile Energieträger zu stark gestiegenen Preisen mitsamt einer unvorhersehbaren Volatilität kaufen oder – sofern überhaupt möglich – substituieren müssen. Bei einem sich verstetigenden hohen Preisniveau der Energiekosten bestehen für etliche Unternehmen Risiken für die Fortführung ihrer Tätigkeit in Deutschland, da keine ausreichende Wettbewerbsfähigkeit auf internationalen Märkten mehr gegeben ist. Die Sicherung der Unternehmens-/Produktionsfortführung kann mittelfristig beispielhaft durch den Aufbau redundanter Systeme sowie Energiespeicher, das Sourcing weiterer Lieferanten und alternativer Energiequellen im Rahmen der eigenen Möglichkeiten, die Bündelung von Beschaffungsaktivitäten in Kooperationen mit anderen Unternehmen und die Nutzung von Branchenverbänden bzw. branchenübergreifenden Netzwerken zur Risikoerkennung und Krisenbewältigung erhöht werden.
In Kombination mit bestehenden Preis- und Versorgungsrisiken bergen insbesondere Unsicherheiten aus der Energieerzeugung erneuerbarer Energiequellen im Kontext der aktuellen Energiekrise bedeutende Risikofaktoren für Unternehmen. So können die Konsequenzen einer untypischen Kälteperiode oder Windstille bereits maßgeblich negativ auf die kurzfristige Bereitstellung von Energie zu Peakzeiten und die Sicherstellung der notwendigen Grundspannung im Versorgungsnetz einwirken. Energieerzeuger und -lieferanten stehen vor der Herausforderung, die für die Produktion benötigten Mengen an Energie zuverlässig zu liefern. Diese Unsicherheit schlägt sich sowohl auf den Terminmarkt in Form hoher Prämien nieder als auch mit enorm volatilen Beschaffungspreisen bei kurzfristigem Beschaffungshorizont am Spotmarkt. Insofern sollten sich Unternehmen nicht allein auf politische Lösungen wie die Gaspreisbremse verlassen, sondern zusätzlich selbst für diese Herausforderungen durch geeignete Maßnahmen zur Risikobewältigung vorsorgen. Hierzu sind Lösungsansätze zu finden, um die Position des Unternehmens gegenüber dem Energiemarkt resistenter zu gestalten, bestehende Abhängigkeiten zu reduzieren und ad hoc umsetzbare Notfallpläne bereitzuhalten. Eine kurzfristige Reduktion der Ausbringungsmenge, die Bündelung der reduzierten Distributionsabläufe insbesondere der Hauptlogistik sowie eine Diversifizierung der Beschaffungsquellen sind erfahrungsgemäß Beispiele einer akuten Maßnahmensteuerung im Rahmen eines abgestimmten Vorgehens zwischen Risikomanagement und Business Continuity Management, mit welchen Unternehmen bereits auf kurze Sicht sehr gute risikomindernde Resultate erzielen können.

Wenn Unternehmen nicht in der Lage sind, erhöhte Energie- und somit Erzeugerkosten an nachfolgende Stufen der Wertschöpfungskette oder den Endkunden weiterzugeben, kann dies kurz- bis mittelfristig zu Profitabilitäts- und gar Liquiditätsrisiken bis hin zur Insolvenz führen. Gerade Unternehmen in energieintensiven Branchen sowie familiengeführte, kleine und mittelständische Unternehmen leiden stark unter den kurzfristig massiv erhöhten Produktionskosten, insbesondere dann, wenn diese an vertragliche Absatzkonditionen wie Festpreisbestimmungen gebunden sind und sie dadurch womöglich Verpflichtungen aus Lieferungen und Leistungen nicht mehr nachkommen können. Ist das belieferte Unternehmen hingegen abhängig von Zwischenprodukten oder Dienstleistungen, besteht ein unmittelbares Zulieferausfall-/Adressatenausfallrisiko, welches im Idealfall durch kurzfristige finanzielle Maßnahmen gestundet oder durch vertragliche Nachverhandlung mitaufgefangen werden kann. Schritte zur rechtzeitigen Klärung zusätzlicher Finanzierungsmöglichkeiten bzw. eines auskömmlichen finanziellen Headroom zur Vermeidung kurzfristiger finanzieller Engpässe flankiert durch ein effektives Liquiditätsmanagement sollten für relevante Risikoszenarien, die in finanzieller Schieflage münden können, etabliert sein.
Die aktuelle Situation an den Energiemärkten nimmt zusätzlich unmittelbar Einfluss auf die Attraktivität des Standorts Deutschlands und verschärft Standortrisiken für Unternehmen. Deutschland verliert insbesondere aufgrund der höheren Industriestrompreise an Attraktivität im Vergleich zu anderen Ländern, in denen die Energiekosten nicht äquivalent zu den deutschen Preiserhöhungen gestiegen sind. Die Fertigungskosten eines Unternehmens variieren global stark und werden durch die Unsicherheiten am Energiemarkt verstärkt. In Volkswirtschaften wie den USA oder Japan sind – verglichen mit den Preissprüngen in Europa – die Preissteigerungen bislang ausgesprochen moderat ausgefallen oder ganz ausgeblieben, jedoch gibt es ebenso innerhalb Europas markante Preisunterschiede. Diese Faktoren sind dauerhaft präsent und führen weitreichende Konsequenzen für Unternehmen und Verbraucher mit sich. Durch Preisnachteile und hohe Importrisiken bei Energie verschlechtert sich die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland und Unternehmensverlagerungen werden aufgrund komparativer Energiekosten zunehmend zum Thema. Durch gestiegene Logistikkosten wächst die Attraktivität des Nearshorings zum Rohstoff-/Zuliefer- und/oder Absatzmarkt als strategische Maßnahme. Auch durch die Digitalisierung oder Substituierung von Fertigungsschritten bis hin zur Verlagerung von Fertigungsschritten oder der Gesamtproduktion in Regionen mit geringerem Exposure zum Energiemarkt können insbesondere Unternehmen energieintensiver und nicht standortgebundener Branchen ihre Energierisiken langfristig optimieren.
Gesamtwirtschaftliche Risiken aus der aktuellen Energiekrise wirken sich zudem auf das Verhalten der Kunden von Unternehmen aus. Inflation und Rezessionsängste schüren zunehmende Unsicherheit vor der Zukunft, Konjunkturprognosen wurden deutlich reduziert und Konsumenten fällt es zunehmend schwerer Anschaffungen langfristig zu planen und Rücklagen zu bilden (vgl. dt. Bundesbank Monatsbericht Dezember). Bereinigt um die Realeinkommensverluste an das Ausland, welche aus massiven Preiserhöhungen für importierte Energieträger entstehen, dürften die Veränderungsraten der realen Kaufkraft im Inland in den letzten Jahren nochmal deutlich negativer ausfallen als die des preisbereinigten Bruttoinlandsprodukts (vgl. Nierhaus & Wollmershäuser 2022). Durch einen teurer werdenden Warenkorb und deutliche Kaufkraftverluste der Konsumenten fällt es Unternehmen schwerer am Absatzmarkt erfolgreich deren geplante Margen zu erwirtschaften. Gestiegene Erzeugerkosten insbesondere bei preiselastischen Gütern und Dienstleistungen können nicht oder nur in beschränktem Umfang an den Endkunden weitergegeben werden. In konjunkturell schwachen Perioden sollten Unternehmen daher bezugs- und absatzseitige Stellschrauben und Kostenpositionen wie eine Flexibilisierung der Personalkosten anhand nachfrageinduzierter Arbeitszeitmodelle prüfen. Des Weiteren nutzen Unternehmen zunehmend analytisch-prognostische Instrumente, um eine simultane Absatz- und Produktionsplanung für wahrscheinliche Szenarien rechtzeitig realisieren zu können.

3. Verzahnung von Risikomanagement und Business Continuity Management als praxiserprobter sowie erfolgskritischer Lösungsansatz
Während Unternehmen im Umgang mit Risiken des gewöhnlichen Tagesgeschäfts meist gut aufgestellt sind, werden sogenannte „Tail-Event-Risiken“ (Extremrisikoszenarien) häufig unterschätzt und vernachlässigt (vgl. Taleb 2007). Dabei handelt es sich um Risiken, welche sich bei niedriger Eintrittswahrscheinlichkeit im Eintrittsfall mit sehr hoher bis existenzbedrohender Auswirkung niederschlagen. Die aktuelle Energiekrise, maßgeblich resultierend aus dem Ukraine-Konflikt, ist ein Beispiel hierfür. Für im laufenden Betrieb vergleichsweise häufig auftretende, weniger abstrakte Ereignisse liegen ausreichend Erfahrungswerte und Notfallpläne vor, sodass diese Risikoszenarien nicht zum ersten Mal durchlaufen und mit entsprechenden präventiven bzw. korrektiven Maßnahmen zur Risikobewältigung in der Regel gut aufgefangen werden können. Bei der aktuellen Energiekrise oder anderen Tail-Events handelt es sich grundsätzlich um schwierig vorherzusehende Ereignisse, deren Auswirkungen aufgrund komplexer Wechselwirkungen mit angrenzenden Risiken nur durch ein wirksames Zusammenspiel vorhandener Corporate-Governance-Systeme gemeistert werden können. Denn gerade für Krisenzeiten gilt: Die Unternehmensorganisation sollte auf Unsicherheiten dieser extremen Art vorbereitet sein, es sollte eine möglichst ganzheitliche Sicht auf bestehende Risiken bestehen und eine ausreichende Reagibilität für Maßnahmen zur Risikobewältigung sollte vorliegen. Wesentliche Bedeutung für einen wirksamen Umgang mit der Krise und die Überlebensfähigkeit eines Unternehmens erlangt in diesem Zusammenhang das Zusammenspiel von Risikomanagement und Business Continuity Management inklusive dessen artverwandten Teildisziplinen Inzidenz-, Notfall- und Krisenmanagement. Ein angemessenes und wirksames Risikomanagementsystem liefert anhand analytischer und prognostizierender Methoden bzw. Instrumente wichtige Impulse zur Vorhersage sowie Einschätzung der potenziellen Auswirkungen eines Tail-Event-Risikos. Im Kontext der Energiekrise umfasst dies u.a. die Analyse möglicher Risikoszenarien und Wechselwirkungen unter Nutzung von Risk-Sensing-, Predictive-Analytics- und Risikosimulationsansätzen. Diese Methoden helfen frühzeitig auf trendbasierte Veränderungen wie bspw. Veränderungen im Konsumentenverhalten durch Kaufkraftverluste zu reagieren und Auswirkungen externer Schocks realistisch zu modellieren. Die Erkenntnisse aus diesen Analysen sollten wiederum in die zusammenführende Risikotragfähigkeitsanalyse des Unternehmens einfließen, um durch den Abgleich der Gesamtrisikosituation mit vorhandenen Deckungsmassen mögliche bestandsgefährdende Entwicklungen frühzeitig erkennen zu können. Ferner gilt es, die Analyseergebnisse des Risikomanagements effizient für das Business Continuity Management und im Krisenfall für das Krisenmanagement des Unternehmens zu nutzen und entsprechende Maßnahmen für den Ernstfall vorzubereiten sowie bei Eintritt umzusetzen. Hierzu zählen im Zusammenhang mit der Energiekrise u.a. auf jeweilige Risikoszenarien vorbereitete Notfall- und Krisenpläne wie beispielsweise für den Ereignisfall einer fortzuführenden Produktion bei ausbleibenden Gaslieferungen oder die frühzeitige Auslotung von Notfall-Finanzierungsoptionen und finanziellen Unterstützungsmöglichkeiten im Hinblick auf potenzielle Liquiditätsengpässe. Eine hinreichende Harmonisierung von Risikomanagement und Business Continuity Management ist letztlich Voraussetzung für ein ganzheitliches Resilienz-Management von Unternehmen, um kontinuierlich die organisatorische Widerstandskraft von Geschäftsmodellen durch Fähigkeiten zur Reaktion auf und Anpassung an Veränderungen in strukturierter Weise zu verbessern.
René Scheffler Partner| Audit and Assurance, Deloitte Deutschland
Tobias Flath Director| Audit and Assurance, Deloitte Deutschland
Christian Dommers Senior Manager| Audit and Assurance, Deloitte Deutschland
Samuel Stuffer Manager| Audit and Assurance, Deloitte Deutschland
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