Corporate Governance Inside
Künstliche Intelligenz – Herausforderung für den Aufsichtsrat
Wie kann sich der Vorstand der aktuellen (Gen)AI-Herausforderung sowie Disruption stellen und was sollte der Aufsichtsrat dabei hinterfragen?
Gastbeitrag von Dr. Michael Müller-Wünsch
"Viele Unternehmen agieren chancenorientiert."
In 100 Tagen wurde das aktuelle Modell ChatGPT4 von openAI mit Billionen von Parametern trainiert. Es zählt zu den prominentesten Vertretern für generative künstliche Intelligenz (GenAI) neben der vergleichbaren Variante von Google Bard. Seit der Veröffentlichung im November 2022 wird GenAI oft eine ähnlich disruptive Wirkung auf die Gesellschaft zugesprochen wie einst der Erfindung der Dampfmaschine (1712), der Einführung der Elektrizität und des Telefons (1880), dem Start des Internets (1989) oder zuletzt der Einführung des iPhone (2007).
Und diese Disruption wirkt auch auf Unternehmen. Doch wie haben sich Aufsichts- und Beiräte, Vorstände und Geschäftsführung in den letzten zwölf Monaten mit dieser technologischen Innovation auseinandergesetzt, um ihre Organisation aktiv auf die Zukunft auszurichten? Haben sie die entsprechenden Investitionen in die Wege geleitet oder sich von den unsicheren Rahmenbedingungen davon abbringen lassen? Denn immer wieder drohten Regulierungsvorhaben der EU und der Bundesregierung die Potenziale der Technologie im Keim zu ersticken. Zuletzt ließen Anfang November 2023 die Managementverwirrungen rund um OpenAI-CEO Sam Altman die Zuversicht schwinden, dass der angedachte KI-Kurs wirklich der richtige ist.
In solch unsicheren Zeiten scheinen Investitionen in GenAI maximal risikobehaftet. Also lieber warten als starten?
Nein! Ungeachtet der zahlreichen regulativen, technischen und wirtschaftlichen Unwägbarkeiten agieren viele Unternehmen chancenorientiert. Die eindeutige Empfehlung ausgehend von der Bewertung der Geschäftsfähigkeiten lautet, durch entsprechende Ausbildungs- und Informationsprogramme die relevanten Mitarbeitenden zu einer aktiven Auseinandersetzung mit der Technologie zu ermutigen. Allerdings sind die Unterschiede von KI-Anwendungen zu traditionellen IT-Lösungen zu berücksichtigen. Es liegt in der Basistechnologie der künstlichen Intelligenz und damit ebenso inhärent der generativen KI, dass sie anders als konventionelle, deterministische Softwaresysteme einem dauerhaften Wartungs- und Veränderungsaufwand unterliegen. Ähnlich den Mitarbeitenden innerhalb einer Organisation bedarf es im übertragenen Sinne bei (Gen)AI-Anwendungen einer dauerhaften Weiterbildung und Qualifikation; sicherlich eine neue Perspektive für den CFO mit dem Blick auf stabile IT-Budgets.
Für die ersten Gehversuche mit GenAI in einer Organisation kristallisieren sich Anwendungen in den nachfolgenden Bereichen heraus (nicht abschließend):
- Hyperpersonalisierung und Pre-Sales
- After Sales
- Content-Erstellung und Produktdaten
- Vertrags- und Dokumentenmanagement
- Software-Entwicklungsaufgaben
Allen Ansätzen ist gemein, dass es sich in der überwiegenden Anzahl der Initiativen um Assistenz- oder CoPilot-Lösungen handeln wird. Der Mensch wird in speziellen Aufgaben unterstützt, aber nicht ersetzt. Die Mitarbeitenden initiieren den Prozess der generativen KI-Lösung mit ihren Fragen und Aufgaben, lassen Lösungen durch die GenAI-Software generieren, überprüfen und übernehmen diese zur eigenständigen Vervollständigung und zum finalen Abschluss der Aufgabe. Dem Motto folgend: Mitarbeitende ohne GenAI werden sich gegenüber Mitarbeitenden mit GenAI-Unterstützung in Zukunft immer schlechter stellen. Die Empfehlungen für Vorstand und Geschäftsführung, wie sie sich bestmöglich auf GenAI vorbereiten und darauf reagieren können, hängen im großen Maße u.a. von drei Themen ab:
- Hat der Vorstand die Disruptionswirkung von GenAI für das bestehende Geschäftsmodell in Bezug auf z.B. das Kundenerlebnis, Erlösströme und Prozessabläufe schon erarbeitet? Ein Beispiel aus der Praxis: Bei Otto hat der Vorstand sechs Outside-in-Workshops durchgeführt, um diese Disruptionswirkung zu identifizieren. Es sind dabei mehr als 30 mögliche Use Cases erarbeitet worden, wovon derzeit die ersten fünf in die Umsetzung gebracht werden.
- Gibt es Erfahrungen in der Entwicklung von traditionellen, analytischen KI-Anwendungen im Unternehmen? Otto verfügte bei Beginn der aktuellen GenAI-Welle bereits über mehr als zehn Jahre Erfahrung in der Entwicklung und dem Betrieb von traditionellen KI-Anwendungen, die von fast 100 KI-Spezialist: innen, ML Engineers und Data Scientists betreut werden. Ist diese Erfahrung im Unternehmen nicht vorhanden, muss sie konsekutiv aufgebaut werden.
- Welche Bedeutung nimmt die Qualität von Daten im Geschäftsmodell ein und wie wird diese operativ sichergestellt? Bei Otto entsteht ein Cloud-basierter Data Market Place, der schon heute in großen Teilen als Data Foundation für das Geschäftsmodell fungiert und zugleich das zukünftige Fundament für viele GenAI-Applikationen bildet.
Daraus können sich folgende Aufgaben für eine wirksame Einführung und den Betrieb von GenAI-Anwendungen ergeben:
- (Gen)AI-getriebene Vision und Strategie: Unternehmen müssen eine (Gen)AI-Geschäftsvision sowie ein Anspruchsniveau definieren und davon eine (Gen)AI-Strategie für das Unternehmen ableiten.
- Betriebsmodell und Governance: Die Verantwortlichen sollten das Betriebsmodell und die Governance für eine zunächst zentrale (Gen)AI-Organisation definieren, um Synergien zu schaffen, die GenAI-Potenzial in die Skalierung bringen und den Austausch von Best-Practices (intern wie extern) vorantreiben.
- Verantwortungsvolle, humanzentrierte (Gen)AI: Entscheidungsträger:innen müssen einen proaktiven Umgang mit regulatorischen und ethischen Fragen (z.B. EU-AI-Gesetz) pflegen, um verantwortungsvolle (Gen)AI mit Blick auf die Wirkung für die Menschen umzusetzen.
- Datenkultur, -demokratisierung und -qualität: Investitionen in die Fortbildung der Mitarbeitenden sowie das Initiieren eines Mentalitäts- und Kulturwandels helfen dabei, die Nutzung von Daten und (Gen)AI in der gesamten Organisation voranzubringen. Darüber hinaus helfen Tools bei der Verwaltung von Datenbeständen und der Verbesserung der Qualität und tragen dazu bei, die Produktivität und die Skalierbarkeit der datengesteuerten Entscheidungsfindung zu erhöhen.
Abb. 1 – Beispielhafter (Gen)AI-Strategie-Implementierungs-Prozess

"Der Mensch wird in speziellen Aufgaben unterstützt, aber nicht ersetzt."
Wenn eine Organisation nicht über die fachlichen und kapazitativen Ressourcen verfügt, um diese Voraussetzungen zu erfüllen, kann sie externe Expertise hinzuziehen. Unterstützung leisten hier neben entsprechenden Technologiepartnern und bekannten Beratungsunternehmen auch KI-Arbeitsgruppen: In Deutschland sind das meist regional agierende Zusammenschlüsse, beispielsweise an den lokalen Hochschulen. Eine solche Kooperation kann Unternehmen dabei helfen, sich den Weg in eine Business Transformation powered by GenAI zu erarbeiten.
Diese Zusammenarbeit hilft Unternehmen auch dabei, ihre konkreten technologischen Bedarfe zu eruieren, um den gewünschten Business Impact zu generieren. Erfordert ihr spezifischer Anwendungsfall beispielsweise wirklich ein Large Language Model (LLM) mit seinem großen Technologieressourcenbedarf beim Trainieren und Ausüben oder ist ggf. auch ein kleineres Modell (SLM) mit manchmal nur wenigen Millionen Parametern ausreichend?
Auch in der Niedrigschwelligkeit der öffentlichen Anwendung der GenAI-Plattform erscheint es offensichtlich, dass ein abruptes Ende dieses Technologiehypes unwahrscheinlich ist, und umso mehr empfiehlt sich das Erlernen eines verantwortungsvollen Umgangs und Einsatzes dieser Technologie. Und was ebenfalls nicht unterschätzt werden darf: wie diese Technologie für kriminelle und betrügerische Aktivitäten genauso effektiv eingesetzt werden kann. Deswegen sind Aufklärung und Schulung in den Unternehmen und darüber hinaus in der Gesellschaft immens wichtig, um mehr Nutzen als Schaden aus dieser neuen Technologiegeneration zu erfahren.
Autor
Dr. Michael Müller-Wünsch ist CIO beim Hamburger Plattformanbieter Otto. Der gebürtige Berliner studierte Informatik und BWL an der Technischen Universität Berlin und promovierte im Bereich der künstlichen Intelligenz. Über verschiedene Geschäftsführerstationen in der IT-Welt wechselte er im August 2015 als Bereichsvorstand Technologie zu Otto, gestaltet die Business Transformation und verantwortet seitdem die Weiterentwicklung der IT-Landschaft und das 1000-köpfige Tech-Team. Müller-Wünsch engagiert sich ehrenamtlich als Vorstand, Präsidiums- und Beiratsmitglied in unterschiedlichen Tech-Initiativen (IT Executive Club, Uni Hamburg Stiftungsprofessur IT-Management und -Consulting, VOICE, Hamburger IT-Strategietage, BMBF-Forschungsprogramm „Zukunft der Wertschöpfung“, BMBF „Quanten-Computing/RYMAX One“, BMBF „Toolbox Datenkompetenz“) und fördert die Vernetzung, den Austausch und Ausbau von IT-Experten sowie -Expertinnen und Tech-Wissen. Müller-Wünsch ist zweimal zum CIO des Jahres (Innovation Award 2017 und Großunternehmen Award 2022) von einer renommierten Jury aus Wissenschaft und Praxis ausgezeichnet worden. Er spricht oft zu den Themen Business- und Technologie-Transformation, künstliche Intelligenz, Cloud-Architekturen, Sustainability in and by IT und Tech-Talent-Entwicklung auf Konferenzen und Podcasts.
Seine Herzensangelegenheit ist: mehr Frauen in Tech-Berufen. Als dreifacher Vater setzt er sich aktiv dafür ein, mehr Weiter- und Ausbildungsangebote für Mädchen und Frauen zu etablieren und diese für Tech-Themen zu begeistern.
Dr. Michael Müller-Wünsch CIO, Otto (GmbH & Co KG)
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