Corporate Governance Inside

Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz


Zwischen großen Plänen und offenen Fragen

Was der EU-Wettbewerbskompass für Unternehmen bedeutet

Die Wettbewerbsfähigkeit Europas steht unter Druck und die Europäische Union (EU) vor einer entscheidenden Weichenstellung. In den letzten Jahren hat die EU im globalen Vergleich, insbesondere gegenüber den USA und China, an wirtschaftlicher Dynamik verloren. Gleichzeitig verschärfen geopolitische Spannungen, die grüne Transformation und die digitale Revolution den internationalen Wettbewerb. Mit dem am 29. Januar 2025 vorgestellten Wettbewerbskompass setzt die neue EU-Kommission unter Ursula von der Leyen die Leitplanken für ihre zweite Amtszeit. Der Kompass, der maßgeblich auf den Empfehlungen des Draghi-Reports zur Förderung von Investitionen und Kapitalmarktintegration und des Letta-Reports zur Vertiefung des Binnenmarkts basiert, bildet das Kernstück der europäischen Wettbewerbsstrategie für die Jahre 2024 bis 2029. Er verfolgt drei zentrale Ziele: die Innovationslücke schließen, die Dekarbonisierung wirtschaftlich gestalten und die wirtschaftliche Sicherheit Europas stärken. Ergänzend betont die Kommission die Bedeutung horizontaler Maßnahmen wie Bürokratieabbau, die Stärkung des Binnenmarkts, eine Savings- and Investments Union sowie eine bessere Koordination zwischen EU- und nationaler Politik.

Angesichts der zunehmend fragmentierten globalen Handelsbeziehungen und eines sich wandelnden, dynamischen internationalen Handelsumfelds wird die Notwendigkeit eines starken und integrierten Binnenmarkts umso dringlicher. Dieser gilt mehr denn je als Rückgrat der europäischen Wettbewerbsfähigkeit.

Seit der Vorstellung des Kompasses hat die Kommission eine Reihe konkreter Initiativen nachgelegt – darunter das Omnibus-Vereinfachungspaket zur Entlastung der Nachhaltigkeitsberichterstattung, den Clean Industrial Deal als industriepolitisches Klimaprogramm sowie eine umfassende Strategie zur Stärkung des europäischen Kapitalmarkts. Hinzu kommen industriepolitische Pläne für die Verteidigungswirtschaft (Readiness 2030) sowie für die Automobilbranche, die beide zentrale Sektoren europäischer Wettbewerbsfähigkeit adressieren.

Für Unternehmen in Deutschland stellt sich die Frage, welche Auswirkungen diese Strategie auf ihre Geschäftsfelder haben wird und wie Aufsichtsräte darauf reagieren sollten.

Innovation als Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit

Die erste Säule des Wettbewerbskompasses konzentriert sich auf die Förderung von Innovation und den Abbau der bestehenden Technologielücke gegenüber den USA und China. In den vergangenen Jahrzehnten hat Europa an Innovationskraft verloren, was zu einem wachsenden Produktivitätsgefälle führte. Um diesem Trend entgegenzuwirken, stellt die EU Forschung, Digitalisierung und Technologieförderung in den Mittelpunkt ihrer Strategie. Im Jahr 2025 startet sie daher eine Vielzahl neuer Initiativen: Die EU-Quantum-Strategie soll Europa an die Spitze der Quantenforschung bringen, während der für das vierte Quartal geplante European Innovation Act umfassende Anreize für Forschung und Entwicklung bieten soll. Gleichzeitig hat die EU-Kommission Investitionen in Höhe von 200 Milliarden Euro aus öffentlichen sowie privaten Mitteln für künstliche Intelligenz angekündigt. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf dem Biotechnologiesektor.

Dekarbonisierung als wirtschaftliche Chance

Die zweite Säule des Wettbewerbskompasses verbindet Klimaschutz mit Wettbewerbsstärkung. Mit dem im Frühjahr 2025 veröffentlichten Clean Industrial Deal will die EU eine Brücke zwischen grüner Transformation und industrieller Wettbewerbsfähigkeit schlagen. Gleichzeitig bekräftigt die Kommission ihre Klimaziele: eine 90-prozentige Reduktion der Emissionen bis 2040 und das Erreichen der Klimaneutralität bis 2050.

Der Clean Industrial Deal konkretisiert diesen Anspruch und umfasst sechs zentrale Säulen – von bezahlbarer Energie über Lead Markets bis zu Kreislaufwirtschaft, Finanzierung und Qualifizierung. Kern der Maßnahmen ist der Umbau energieintensiver Industrien sowie die gezielte Förderung klimafreundlicher Technologien. Ein zentraler Baustein wird der Industrial Decarbonisation Accelerator Act sein, welcher zum Jahresende verabschiedet werden soll und Anreize für die Umstellung auf klimafreundliche Produktionsprozesse bietet. Zudem ist ein Aktionsplan für bezahlbare Energiepreise angedacht.

Unternehmen sollten bereits jetzt interne Dekarbonisierungsprojekte auf ihre Förderfähigkeit prüfen und ihre Investitionsstrategie entsprechend justieren – insbesondere mit Blick auf angekündigte neue Förderinstrumente und regulatorische Erleichterungen.

Strategische Autonomie und Versorgungssicherheit

Die dritte Säule des Kompasses stellt die wirtschaftliche Sicherheit und die Reduzierung strategischer Abhängigkeiten in den Mittelpunkt. Die geopolitischen Spannungen der vergangenen Jahre haben die Verwundbarkeit europäischer Lieferketten deutlich gemacht. Die EU reagiert darauf mit Maßnahmen zur Stärkung der Versorgungssicherheit und zum Ausbau strategischer Partnerschaften. Eine gemeinsame Beschaffungsplattform für kritische Rohstoffe soll noch dieses Jahr ins Leben gerufen werden und die Versorgung mit kritischen Rohstoffen sichern. Gleichzeitig sollen Clean Trade and Investment Partnerships helfen, Lieferketten zu diversifizieren und gezielt Partnerschaften mit rohstoffreichen Ländern zu schließen. Im Gesundheitssektor soll der Critical Medicines Act die Versorgungssicherheit bei essenziellen Medikamenten verbessern.

Bürokratieabbau als zentraler Hebel

Neben diesen drei Säulen setzt die EU auf ganzheitliche Hebel, um die Wettbewerbsfähigkeit umfassend zu stärken. Insbesondere der Bürokratieabbau steht im Zentrum der sogenannten „horizontalen Enabler“. Die EU-Kommission hat ein weitreichendes Vereinfachungsprogramm angekündigt, um administrative Hürden für Unternehmen spürbar zu senken.Ein wichtiger erster Schritt in Richtung Regulierungserleichterung ist das sogenannte Omnibus-Vereinfachungspaket. Im April 2025 hat das Europäische Parlament mit breiter Mehrheit für eine zeitliche Streckung zentraler Nachhaltigkeitsvorgaben gestimmt – darunter die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) und die Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD). Die formelle Zustimmung der Mitgliedstaaten im Rat gilt als wahrscheinlich. Damit gewinnen Unternehmen mehr Zeit für die Umsetzung, insbesondere im komplexen Bereich der Lieferketten. Die konkreten inhaltlichen Vereinfachungen gilt es im weiteren Jahresverlauf aufmerksam zu verfolgen und auf ihre Relevanz für die eigene Unternehmenspraxis hin zu prüfen. Die Europäische Kommission hat hier signifikante Reduktionen beim Umgang mit Berichtspflichten vorgeschlagen, welche politisch allerdings umstritten sind.

Vertiefung der Strategie: Ergänzende Initiativen konkretisieren den Wettbewerbskompass

Ergänzend zum Wettbewerbskompass hat die Europäische Kommission in den vergangenen Wochen eine Reihe konkreter Initiativen vorgestellt, die dessen Zielrichtung untermauern und strategisch weiterführen. Ob nachhaltige Produktion, der europäische Finanzmarkt oder die Verteidigungsindustrie – diese Maßnahmen sollen gezielt Impulse in zentralen Sektoren setzen und die strukturelle Wettbewerbsfähigkeit der EU langfristig stärken.

Mit der Strategie zur Savings and Investment Union verfolgt die EU das Ziel, Europas Kapitalmärkte leistungsfähiger, integrierter und attraktiver zu machen – sowohl für Bürgerinnen und Bürger als auch für Unternehmen. Neben Maßnahmen zu Finanzbildung und besseren Anlagemöglichkeiten für private Haushalte sollen regulatorische Hindernisse abgebaut, nationale Steuerbarrieren reduziert und Securitisation-Produkte vereinfacht werden. Für Unternehmen entstehen daraus neue Spielräume bei Finanzierung und Wachstum – insbesondere für KMU. Politisch hängt dies allerdings an dem Willen der Mitgliedstaaten, welche hier in den letzten Jahren wenig Spielraum zu wirklichen Änderungen gegeben haben. Der internationale Druck mag hier nun förderlich sein.

Gleichzeitig wird Europas industriepolitische Neuausrichtung sicherheitspolitisch flankiert: Mit dem Weißbuch Defence Readiness 2030 und dem ReArm Europe Plan setzt die EU auf eine massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben, erleichtert durch flexiblere Haushaltsregeln für die Mitgliedstaaten sowie die Aufnahme von gemeinsamen Schulden. Davon sollen nicht nur klassische Rüstungsunternehmen profitieren, sondern auch Technologieanbieter in Bereichen wie KI, Cybersicherheit und Drohnentechnik. Weitere Sektoren wie die Chemie- und Stahlbranche gelten als Profiteure, sollten diese Investitionen getätigt werden. Die Mitgliedstaaten werden hierzu bis zur Sommerpause abstimmen.

Auch die europäische Automobilbranche, langjährige Stütze des industriellen Wohlstands, erhält mit einem neuen Strategieplan politischen Rückhalt. Investitionen in Batterietechnologien, regulatorische Testumgebungen für autonomes Fahren sowie flexiblere CO₂-Regelungen sollen Innovation fördern und Planungssicherheit schaffen. Gleichzeitig schlägt die Kommission vor, gezielt in Qualifizierungsmaßnahmen für Mitarbeitende zu investieren, um einen fairen Strukturwandel sozial abzufedern.

Offene Fragen und Herausforderungen

Insgesamt lassen sich der Wettbewerbskompass sowie die ergänzenden Initiativen als Schritte in die richtige Richtung bewerten. Sie setzen wichtige Impulse, doch bleiben erhebliche offene Fragen zur Umsetzung. Die größte Herausforderung stellt die Finanzierung dar: Viele der angekündigten Maßnahmen – vom Clean Industrial Deal bis zur Förderung von Zukunftstechnologien – erfordern beträchtliche Mittel. Bislang ist jedoch unklar, wie diese finanziert werden sollen. Eine Erhöhung des EU-Haushalts oder eine gemeinsame Schuldeninitiative sind Gegenstand politischer Debatten, eine Einigung mit den Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament steht jedoch noch aus.

Zugleich bleibt fraglich, ob die angekündigte Vereinfachungsagenda politisch durchsetzbar ist. Besonders die geplante Reduzierung von Berichtspflichten stößt im Europäischen Parlament auf Widerstand, da befürchtet wird, Umwelt- und Sozialstandards könnten verwässert werden. Hier zeigt sich ein Zielkonflikt zwischen Wettbewerbsförderung und Nachhaltigkeitsansprüchen.

Die kürzlich beschlossene zeitliche Verschiebung zentraler Nachhaltigkeitsvorgaben verschafft insbesondere kleinen und mittleren Unternehmen zusätzliche Vorbereitungszeit. Die konkrete Ausgestaltung der angekündigten Vereinfachungen bleibt jedoch weiterhin offen.

Was Vorstände und Aufsichtsräte jetzt beachten sollten

Der Wettbewerbskompass entfaltet zunehmend konkrete Wirkung. Die Richtung stimmt – doch zwischen politischen Ambitionen und unternehmerischer Realität bestehen weiterhin Lücken, die nur durch konsequente Umsetzung, Zusammenarbeit und Finanzierung geschlossen werden können.

Für Unternehmen ergeben sich daraus strategische Chancen – etwa durch Innovationsförderung, neue Wertschöpfungspartnerschaften oder bessere Finanzierungsbedingungen. Besonders in Bereichen wie Verteidigung, Dekarbonisierung, künstliche Intelligenz, Biotechnologie und Quantencomputing bieten sich neue Anknüpfungspunkte für Wachstum und Transformation. Gleichzeitig wird erwartet, dass Unternehmen verstärkt in Forschung und Entwicklung investieren und aktiv den Austausch mit europäischen Innovationsclustern suchen.

Aufsichtsräte sollten in ihren Strategiediskussionen mit dem Vorstand sicherstellen, dass Innovationspartnerschaften geprüft und relevante EU-Förderprogramme frühzeitig in die Unternehmensplanung integriert werden. Besonders energieintensive Branchen – etwa die Chemie-, Stahl- oder Automobilindustrie – stehen unter Druck, ihre Geschäftsmodelle an den neuen europäischen Rahmen anzupassen. Die Umsetzung von Dekarbonisierungsstrategien gehört ebenso auf die Agenda wie eine kontinuierliche Überprüfung der Resilienz globaler Lieferketten.

Darüber hinaus sollten die strukturellen Entwicklungen im Rahmen der Savings and Investment Union aufmerksam verfolgt werden – insbesondere mit Blick auf Kapitalmarktzugang und neue Finanzierungsmöglichkeiten für Zukunftsinvestitionen. Ziel ist ein tiefer integrierter Binnenmarkt, der regulatorische Barrieren abbaut und grenzüberschreitende Investitionen erleichtert – insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen.

Der Wettbewerbskompass ist mehr als ein politisches Programm – er ist eine Richtungsentscheidung für die europäische Wirtschaft. Ein zentraler Hebel zur Stärkung des europäischen Binnenmarkts ist die im Mai veröffentlichte Binnenmarktstrategie der Kommission. Sie zielt darauf ab, bestehende Hürden abzubauen, Fragmentierung zu verringern und den Binnenmarkt als Wachstumsmotor neu zu beleben. Entscheidend für ihre erfolgreiche Umsetzung wird jedoch der politische Wille der Mitgliedstaaten sein, insbesondere im Hinblick auf eine stärkere Harmonisierung.

Gleichzeitig birgt der Wettbewerbskompass Risiken: Unklare Finanzierungspläne, politische Uneinigkeit und langsame Entscheidungsprozesse könnten seine Wirksamkeit einschränken. Entscheidend wird sein, ob die EU-Kommission den Worten auch Taten folgen lässt. Der Kurs stimmt – jetzt muss geliefert werden, von der Politik wie von der Wirtschaft.

Mosche Orth Senior Manager Public Policy / EU Policy Centre | Deloitte Deutschland

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